Gewandhausorchester spielt Hartmann und Strauss (Marcus Erb-Szymanski)

10. Mai 2001 Gewandhaus Großer Saal

Gewandhausorchester unter Herbert Blomstedt

Solist: Roland Hermann, Bariton

Karl Amadeus Hartmann:
?Gesangsszene? für Bariton und Orchester zu Worten aus ?Sodom und Gomorrha? von Jean Giraudoux

Richard Strauss:
?Eine Alpensinfonie? op. 64

Einmal Alpen und zurück in fünfzig Minuten

Mit Herbert Blomstedt als Reiseleiter lassen wir uns gern durch die Alpen führen. Und die Satzüberschriften, die Richard Strauss seiner Sinfonie als Programm mitgegeben hat, sind uns ein willkommener Baedeker für diesen Ausflug. Da unser Treff- und Ausgangspunkt ein Konzertabend im Gewandhaus ist, erwartet uns zunächst einmal die –

Nacht.

In langsamen Tonschritten über mehrere Oktaven senkt sie sich hernieder. Liegenbleibende Töne verdichten sich zur Dunkelheit, die bis in die tiefsten Tiefen der Basstuba reicht. Aber allmählich bricht in lichteren Harmonien die Dämmerung an. Gleich dem Krähen des Hahns künden Signalrufe bei den Bläsern vom nahenden –

Sonnenaufgang.

Und tatsächlich, es braucht nur zwölf Takte, bis triumphal die Wolken im Fortefortissimo aufreißen. Da geht nicht nur die Sonne auf, da kommt Helios gefahren mit Heerscharen von Heliaden. Holzbläser und Streicher jubilieren in typischen Richard Strauss Melodien. Es hat sich gelohnt, trotz der anstehenden Wanderung die Nacht zu durchwachen, um dieses Schauspiel zu erleben. Doch nun rufen schon die Bässe und Harfen und setzen sich allmählich in Bewegung. Es ist Zeit für den –

Anstieg.

Jetzt werden wir alle zum fröhlichen Landmann, der sich ein Lied pfeift und losmarschiert. Aber mit Gemütlichkeit ist da nichts zu haben. Nicht nur hat Strauss das Tempo ?sehr lebhaft? vorgegeben, auch Blomstedt mahnt ständig zur Eile. Nun murren schon die ersten im Publikum, denen das alles zu hektisch ist. Laufen ja, aber rennen, wer soll denn das durchhalten bis zum Gipfel? Doch was solls, vielleicht dürfen wir nicht zu spät oben ankommen, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder da sind und uns die Nacht nicht schon unterwegs überrascht.

Doch auch anderweitig ist die Meinung in der Reisegruppe geteilt. Für die meisten ist heute nämlich ein Festtag, sie haben sich schick angezogen und geben sich überhaupt sehr vornehm. Und die rümpfen nun die Nase, weil ihnen z.B. in der Untergruppe der Blechbläser einige zu sehr poltern. Andere sehen das Ganze mehr pragmatisch. So ein Anstieg ist harte Arbeit, da brauchts keine hohen Absätze, sondern feste Wanderschuhe. Die Anstrengung muss zu spüren sein und keine falsche Ästhetik. So gesehen kann bei so einem Gewaltmarsch durchaus bei Orchester und Publikum bisweilen eine gewisse Atemnot herrschen (zumal bei dieser Höhenluft). Doch hört! Die Hörner künden vom nahen –

Eintritt in den Wald.

Über unserem Streit haben wir gar nicht gemerkt, dass wir bereits im Wald angelangt sind. Es ist ein ziemlich kahler Wald, seine poetische Darstellung bleibt eher spröde und auch der Reiseleiter sieht keinerlei Veranlassung, ein wenig innezuhalten. Inzwischen ist es schon eine –

Wanderung neben dem Bache.

Auch hier kein Stimmungswechsel. Im Grund genommen ist alles eine ziemliche Hetzerei. Zwar bleiben wir zusammen in unserem Marschmotiv, aber ansonsten rauscht die Natur an uns vorüber. Inzwischen hat sie die Gestalt eines Gebirgsbaches angenommen, der uns weiterführt bis wir ankommen –

Am Wasserfall.

Die durch alle Instrumentalgruppen herabsausenden Wassermassen können uns einfach nicht imponieren. Wir sind inzwischen zu erschöpft, um noch aufnahmefähig zu sein und brauchen dringend eine Ruhepause. Da endlich zeigt sich auch der Reiseleiter einsichtig. Nicht dass er anhalten würde, aber wenigstens führt uns seine Route aus dem Getöse heraus –

Auf blumige Wiesen auf der Alm.

Und da jauchzt unser Herz wieder angesichts der Vogelrufe, Kuhglocken und Jodler im Orchester. Solch eher cruder Naturalismus auf den Almwiesen ist in dieser Situation Balsam für unser Streichergemüt. In leisen Schritten huschen wir weiter und genießen die Sonne, die uns mit ihrer Melodiösität wärmt. Aber bald schon verschlechtert sich unsere Laune merklich, denn urplötzlich laufen wir –

Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen.

Nun weiß man musikalisch überhaupt nicht mehr, wie es weitergehen soll. Wir verlieren die Orientierung und sind nach wie vor erbost darüber, dass wir ständig angetrieben werden. Muss so ein Sturmlauf auf den Berg wie eine wilde Jagd sein? Doch der Bergführer ist unruhig, sucht er oder erwartet er etwas?. Vielleicht geht es ihm darum, zum richtigen Zeitpunkt – Auf dem Gletscher anzukommen? Durch die Löcher in der nun sparsameren Instrumentation dringt gleißendes Licht, das uns blendet. Dafür sind wir fast am Ziel. Jetzt wird nicht mehr gelaufen, sondern nur noch vorwärts getastet. Da wir uns an die grelle Sonne noch nicht gewöhnt haben, erleben wir –

Gefahrvolle Augenblicke.

Jetzt geht es nicht mehr geradeaus. Wir weichen den Lücken in der Partitur aus, die uns nur noch kurze Motive zum Festhalten gewährt. Leise kündet sich in den Bässen und Posaunen an, was die Klarinetten, die fast oben sind, vielleicht schon sehen. Auch wir haben es gleich geschafft. Es geht unaufhaltsam weiter, das gleißende Licht zerfällt in Streichertremoli, noch blendet es, aber da finden wir einen Halt: Fünft Takte in den Hörnern reichen aus, um uns gemeinsam hinaufzuschwingen. Auf den Punkt genau sind wir alle gemeinsam –

Auf dem Gipfel.

Es ist buchstäblich der höchste Augenblick! Ein unglaubliches Gefühl, wie wir uns nach den endlosen Strapazen, den Gefahren, den letzten sprunghaften Klettereien plötzlich mit allen Instrumenten in einem über alles hinwegstrahlenden F-Dur Akkord erheben. Das war es, woran Herbert Blomstedt wohl gedacht hat, als er uns so lange eine Ruhepause vorenthielt. Wir mussten darben, um diesen Moment in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit erleben zu dürfen. Jetzt glauben wir auch gern, dass es nicht viele Orchester gibt, die so wie dieses ein solches Erlebnis möglich machen. Alle Stimmen drängen sich beim Erreichen des Gipfels in den einen Akkord zusammen und das auf die Hundertstelsekunde genau. Es entsteht durch diese urplötzliche Einheit eine überwältigende Spannung, die sich aber gleichzeitig auch in der ungetrübten Harmonie des Akkords löst. Ist dies die Einheit von Geist und Natur? Flüsternd spricht danach die Oboe stellvertretend für alle unsere Gefühle aus.

Von da an ist eine große Ruhe in der Bewegung. Die musikalische Struktur ist klarer, überschaubarer geworden. Und die einmal erreichte Spannung im gemeinsamen Spiel der Musiker bleibt erhalten. Die Vision am Bergeswipfel ist dabei nur ein kurzes philosophisches Intermezzo, denn wenig später bricht die Natur ganz naturalistisch wieder über uns herein.

?Nebel steigen auf?. ?Die Sonne verdüstert sich allmählich.? Eine ?Elegie? ist nicht mehr, als die ?Stille vor dem Sturm?. Und dann ergehen sich über uns und das mit vollendeter Spiellust –

Gewitter und Sturm.

Strauss hat da gut lachen. Wir müssen das einschließlich der durchgedrehten Windmaschine ausbaden. Dennoch ist dieses Naturspektakel ebenfalls überwältigend und wir wissen es den Musikern in höchstem Maße zu danken. Auch wenn es uns letztendlich zum – Abstieg zwingt. Dabei genießen wir den – Sonnenuntergang mit Trompetenandacht und Orgelwürde. Wenn wir unten ankommen, senkt sich in der Ferne bereits die Nacht herab. Wir hören es deutlich an den Tonschritten des Anfangs, die nun in den Hörnern zum – Ausklang wieder ertönen. Dabei klingt der Tag in uns nach, bei den Bläsern mit höchster Intensität. Ist der wieder haargenaue gleichzeitige Einsatz von Streichern und Pauke in diesem ?Ausklang? die Erinnerung an jenen Höhepunkt auf dem Gipfel? Wenn nun auch das Wandermotiv wieder auftaucht, dann nur deshalb, weil wir jetzt nach Hause gehen. Denn das, was hinter uns zurückbleibt, ist lediglich noch die –

Nacht.

(PS.: Ich hülle den Mantel des Schweigens über Hartmanns fragmentarisch gebliebene apokalyptische Vision ?Sodom und Gomorrha? nach Jean Girodoux. Selten habe ich eine ungünstigere Konzertzusammenstellung erlebt als diesmal. Nichts könnte sich über die Tragik der ?Gesangsszene? strahlender hinwegsetzen, als die in ihrer Vitalität und Musikalität weit überlegene Alpensinfonie. Hartmann hätte an seinem unvollendeten Werk bestimmt noch einiges verändert. Zu viel klingt da plakativ, eintönig und dramaturgisch unausgegoren. In einem Werkstattkonzert mit Neuer Musik hätte ein solches Opus posth. vielleicht einmal vorgestellt werden können. Aber neben so einem kolossalen Werk von Strauss sollte fairerweise eine autorisierte Komposition von Hartmann stehen, z.B. eine der Sinfonien, die schließlich auch selten genug gespielt werden.)

(Marcus Erb-Szymanski)

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