Abschlußkonzert des 6. LeipJAZZig Festivals (Nico Thom)

17. Juni 2001
Abschlußkonzert des 6. LeipJAZZig Festivals

WHKK – Quartett:

Alan Wilkinson – Saxophon
Manfred Hering – Saxophon / Klarinette
Rainer Kühn – E-Baß
Willi Kellers – Schlagzeug

Neun Machen Musik:

Michael Breitenbach – Sopransaxophon
Karola Elßner – Klarinetten
Christian Sprenger – Flöten
Matthias Zeller – Violine
Thomas Prokein – Viola
Christoph Schenker – Violoncello
Gert Unger – Gitarre
Hendrik Bertram – Baßgitarre
Rene Scibio – Schlagzeug / Perkussion

Freiheit versus Unfreiheit

Der Freiheitsbegriff in der Musik ist heikel und wird deshalb viel diskutiert. Viele Musiker und Komponisten wissen um die sogenannte „Musikerkrankheit“, nach der es den Künstlern quasi unmöglich ist, sich von ihren jeweiligen musikalischen Sozialisationen völlig loszulösen. Jeder Künstler hat die Musiksprache seines individuellen musikalischen Umfeldes – seiner Kulturtradition – wie eine Muttersprache aufgesogen. Die harmonischen, rhythmischen und melodischen Konventionen bestimmen die Syntax dieser Musiksprache. Sogar die semantische Komponente der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten ist damit mehr oder minder schon vorgegeben.

Da nun die Beherrschung einer solchen Sprache die Voraussetzung von musikalischer Kommunikation ist, gilt sie oftmals als Maßstab für Musikkritik bzw. für die Bewertung und Kategorisierung von Musik. Die Musiksprache per se ist zwar einerseits förderlich und nützlich, wenn es um das basale Erlernen der Behandlung des Instrumentariums geht, doch stellt sie für den ausgebildeten Virtuosen auch eine Begrenzung seiner individuellen Ausdrucksmöglichkeiten dar. Aus diesem Grunde waren die Meister der Musik meist ihre Neuerer, die sich, um sich musikalisch zu vervollkommnen, auf die Terra incognita vorwagten und damit Pioniere des Fortschritts wurden.

Im Jazzbereich gibt es seit den 60er Jahren den sogenannten Free-Jazz, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die einzelnen Parameter seiner musikalischen Tradition nach und nach aufzulösen, um auf diese Weise die etablierten Strukturen dieser Musikgattung zu Gunsten einer archaischen Ausdrucksform zu opfern. Dabei verlagert sich beim Free-Jazz der Schwerpunkt von der virtuosen und künstlichen zu einer möglichst authentischen, ursprünglichen Spielweise. Um diese zu erlangen, bedarf es der Befreiung von musikalischen Floskeln und Manierismen – und hier liegt, wie bereits erwähnt, die Schwierigkeit.

Das Wilkinson/Hering/Kühn/Kellers – Quartett (WHKK) hat sich dieser Herausforderung gestellt und am Sonntagabend in der Alten Nikolaischule einige Lösungsansätze angeboten. Das Abschlußkonzert des 6. LeipJAZZig Festival der Leipziger Jazzmusiker stand wie alle vorangegangenen Konzertabende ebenfalls unter dem Motto: „Seitenblicke“.

Nebst dem Quartett waren neun regionale MusikerInnen angetreten, um dem heimischen Publikum die Mannigfaltigkeit des Jazz zu präsentieren. Der Saxophonist Michael Breitenbach stellte die Formation zusammen und lieferte ihr die kompositorische Grundlage zum Musizieren.

Nun hätte der Abend kontrastreicher nicht sein können. Das WHKK – Quartett gestaltete den ersten Konzertteil und warf das unvorbereitete Publikum sogleich in einen einstündigen Fluß frei improvisierter Musik. Von der ersten Note an war klar, daß es sich hierbei um vier gleichberechtigte Instrumentalisten handelte, die keine Kompromisse in bezug auf ihre Artikulationsmöglichkeiten machen wollten. Man begann irgendwie und unverbindlich: der Drummer rührte auf seinem Set, der Bassist klemmte eine Maurerkelle unter die Saiten seines E-Basses und strich sie mit einem Bogen, der Londoner Alan Wilkinson spielte ein paar introvertierte Linien auf seinem Alt, Manfred Hering hingegen ließ seine Kollegen erst einmal machen und lauschte ihrem Treiben mit geschlossenen Augen. Langsam verdichtete sich das musikalische Gespräch zu einer lebhaften Diskussion, bei der jeder Musiker seine Meinung äußern durfte und die Gesprächspartner die jeweiligen Aussagen zu kommentieren wußten. Man lieferte sich einen atonalen Schlagabtausch, bei dem die Spieler enorme Dynamikwalle aufbauten, hinter denen sie sich selbstbewußt gebärdeten. Um in diesem Klangstrom nicht unterzugehen, steigerte jeder Mitspieler nochmals seinen Lautstärkepegel, und so trieb man sich gegenseitig zu körperlichen Höchstleistungen, ohne dabei den musikalischen Gesamteindruck außer Acht zu lassen.

Dieser hundertprozentige Einsatz der Musiker veranlaßte einige Zuhörer, sich die empfindlichen Ohren durch Zuhalten zu schützen. Doch die Instrumentalisten hatten Einfühlungsvermögen genug, um in gut dosierten Abständen Spannung auf- und wieder abzubauen und sorgten so für die nötige Abwechslung. Es gehört schon eine Menge dazu, ein Publikum mit einer einstündigen freien Improvisation so zu unterhalten, daß es sich nicht langweilen muß. Die vier Mannen zogen deshalb alle Register: voller Körpereinsatz, ethnomusikalische Anklänge (in Form eines afrikanischen Daumenklaviers), experimentelle Handhabung des Instrumentariums (Blasen in den Schalltrichter des Saxophons; Baßspiel mit einer Bierbüchse! ), gesprochene und gepfiffene Passagen, unkonventionelle Spieltechniken (Zirkularatemtechnik von Hering beim Klarinettenspiel), etc., etc… Diese Musik ließ aufhorchen und bestach durch ihre erfrischende Authentizität!

Da mußten die „neun, die Musik machen“ schon einiges nachlegen, um neben diesem erfahrenen Quartett bestehen zu können bzw. nicht zu verblassen. Leider gelang der Band um Michael Breitenbach nicht so recht, einen weiteren musikalischen Höhepunkt zu erklimmen. Die vorwiegend durchkomponierte und nur mit einzelnen Improvisationen gespickte Musik, zeigte eine gewisse Beliebigkeit in ihrer Zusammensetzung, sowohl innerhalb der Stücke als auch im Ganzen. Dies war laut Aussage des Komponisten auch intendiert, und dennoch konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich hier ein begabter Musiker ein wenig übernommen hatte. Stellenweise blitzten interessante und vielschichtige Ideen auf, die sich aber nur in den seltensten Fällen zusammenfügten.

Erwähnenswert sind die vier kurzen Streichtrios, welche einen erkennbaren, eigenwilligen Stil aufwiesen, der durch den leichten und spielerischen Umgang mit vielerlei musikalischen Einflüssen und Kompositionstechniken auffiel. Das ist erstaunlich, angesichts des hohen kompositorischen Anspruchs dieser kammermusikalischen Gattung und der musikalischen Provenienz des Komponisten. Als Solist bewies Breitenbach erneut, daß er auf dem Sopransaxophon, zumindest im regionalen Raum, konkurrenzlos ist. In dem einzigen Improvisationsstück des Abends blies Breitenbach ein Lyrikon (eine Art elektronisches Sopransaxophon) und entlockte ihm effektbeladene Sounds, die sich mit dem Gitarrenspiel Ungers und den Klängen des Vibraphons (gespielt vom Geiger Zeller!) durchdrangen und verwoben.

Das Programm, das extra für diesen Abend von Breitenbach komponiert und zusammengestellt wurde, entzog sich absichtlich jeglicher Kategorisierung – der Komponist betonte im Programmheft seine Einsicht in die letztendliche Gleichheit jeglicher Musikarten – doch die bloße Aufreihung bzw. Verkettung musikalischer Einflüsse macht noch keinen eigenen Stil aus. Die beabsichtigte Bindung des Ensembles „Neun machen Musik“ an weitestgehend durchkomponiertes musikalisches Material und die damit verbundene „Unfreiheit der Solisten“ ging auf Kosten des jazzigen Anspruchs, der aber auch durch keinen anderen musikalischen Standpunkt ersetzt werden konnte.

(Nico Thom)

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