Konzert mit a capella Kompositionen (Marcus Erb-Szymanski)

22. Juni 2001 Großer Saal der Musikhochschule

Konzert mit a capella Kompositionen

Siegfried Thiele: Wolkenbilder-Chöre
Uraufführung durch den MDR Rundfunkchor unter Leitung von Howard Arman
Vokalwerke der Renaissance (Thoma Morley, Cyprian de Rore, Carlo Gesualdo di Venosa, Juan Vasquez, Orlando de Lassus) und der Gegenwart (Karsten Wolf, Peter Herrmann, Siegfried Thiele, Bernd Franke, Marcus Ludwig)
aufgeführt durch das „ensemble amarcord“

Sangeskunst über und unter den Wolken

Siegfried Thiele ist kein Avantgardist. Dafür zeichnet ihn etwas aus, was Avantgardisten oft fehlt: die Achtung und Ehrfurcht vor dem Wesen der Dinge, aus denen der Künstler ein Werk entstehen lässt. Auf der Suche nach technischen Neuerungen und einem prägnanten individuellen Stil, wird gerade in der Neuen Musik oft auf zu willkürliche Weise mit den musikalischen und literarischen Vorgaben umgesprungen. Thiele dagegen ist sichtlich bestrebt, sowohl dem Gehalt des Textes wie auch dem harmonischen Wesen, das kontrapunktischen Verbindungen über lange Traditionen hinweg anhaftet, gerecht zu werden. Insofern ist seine Musik unspektakulär, aber man spürt einen strengen Formsinn, der unter den auffälligen motivischen Abläufen und klanglichen Bewegungen weitere Geheimnisse birgt. So bleibt die Neugier auf diese Musik auch nach dem Hören noch erhalten.
Die „Wolkenbilder“ sind Vertonungen von, wenn man es etwas ironisch so nennen will, ?wissenschaftlichen? Versen Goethes.

Dessen Poesie zu meteorologischen Erscheinungen ist in ihrer sprachlichen Schönheit, deskriptiven Genauigkeit und den assoziativen Reflexionen unvergleichlich. Die vier Gedichte „Stratus“, „Cumulus“, „Cirrus“ und „Nimbus“ haben Thiele schon in den 70er Jahren beschäftigt, als er in einem Werk für Kammerorchester ?eine von den vier Goethe-Gedichten angeregte Klanggestalt zu finden? versuchte. Solch Klanggestalt zeigt sich dem Ohr zunächst in den ganz offensichtlichen Bewegungen, wenns beispielsweise zugleich in den Bässen ?fallend wässert? und den hohen Frauenstimmen ?luftig steigt?. Oder wenn sich im ersten Gedicht polyphon verschränkte Rhythmen zu einem Netz fließender Stimmen verweben, das Luft- und Wasserwirbeln gleichermaßen gleicht.

Ansonsten zollen deklamatorische Passagen den Versen Tribut, wobei es gerade dann interessant wird, zu erleben, wie sich das Deklamatorische wieder in reine Musik auflöst. Warum dies so sein muss, erklären die Verse selbst: ?Die Rede geht herab, denn sie beschreibt, / Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt.? Fast schon aberwitzig ist solch Aufwärtsbewegung in dem Sopransolo des dritten Gedichts ?Cirrus?, das der leider ungenannten Solistin aus dem Chor ein Äußerstes abverlangt. Auch hier werden Höhen erreicht, in die die Sprache nicht mehr folgen kann. Dort, wo die Stimme über sich hinauswachsen muss, reckt sie sich in überirdische Gefilde: ?So fließt zuletzt, was unten leicht entstand, / Dem Vater ober still in Schoß und Hand.?

Das ?Rahmenprogramm? dieser Uraufführung gestaltete das Ensemble amarcord. Doch angesichts der starken Bühnenpräsenz dieser fünf vollendeten Gentlemans, ihrer hohen Sangeskunst und dem ausgesuchten Programm handelte es sich natürlich nicht nur um einen ?Rahmen?, sondern um ein völlig eigenständiges Konzert. Der klare und ausgewogene Klang dieses Quintetts hat die Wirkung eines Prismas, das fünf einzelne, sprachlich dominierte Gesänge bündelt, um sie dann in einem durchsichtig-farbigen Harmoniebogen aufzufächern.

Bei den Gegenwartskomponisten war allerdings auffallend, wie eng, fast ängstlich sie sich an den Duktus der Madrigalkunst anlehnen. Weil aber heute keine so fließenden Harmonien mehr möglich sind, fielen ihre Werke doch deutlich gegenüber den schwebend leichten oder auch schwebend sehnsüchtigen Madrigalen aus dem 16. Jahrhundert ab. Hier wurde eher deutlich, dass sich die modernen Klänge den alten Vokalformen widersetzen, indem sie sich jeder kontinuierlichen Bewegung sperren.

Da war in formaler Hinsicht das ?Bach Personae – five voices in today?s world? von Bernd Franke am überzeugendsten. Dieses Auftragswerk des Ensembles amarcord zum Bach-Jahr 2000 entsteht durch die simultane Darbietung von fünf verschiedenen, monodisch vorgetragenen Bachtexten aus bekannten Werken des Thomaskantors. Die Überlagerung verschiedener Texte, die durch das Umherlaufen der Ex-Thomaner noch verstärkt wird, erinnert ein wenig an die früheste Motettenkunst – und dadurch, im übertragenen Sinne, auch wieder an den Motettenkomponisten Bach. Am Ende finden die Sänger in einem Choral zusammen, der ganz klar dem Bachschen nachgebildet ist, ihn aber harmonisch verfremdet. Und hier, wo die Bewegungen innehalten, scheint das Verhältnis von befremdlicher Harmonik und vertrauter Form plötzlich völlig legitim.

(Marcus Erb-Szymanski)

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