13. Dezember 2001 Gewandhaus, Großer Saal
Sergej Prokofjew: „Romeo und Julia“, Auswahl aus den Orchestersuiten
Pjotr Iljitsch Tschaikowski: 5. Symphonie e-Moll op. 64
Gewandhausorchester, Dirigent: Riccardo Chailly
Blomstedts Erbe?
Bereits im Vorfeld des Konzerts brodelte die Gerüchteküche. Aus welchem Grund setzte das Gewandhaus in der ohnehin an musikalischem Überangebot leidenden Adventszeit ein zusätzliches Konzert auf den Plan? Ging es hier etwa um mehr als nur um ein musikalisches Ereignis? Auch die auffällige Präsenz wichtiger Vertreter des kulturellen Lebens in Leipzig sowie des Oberbürgermeisters nährten Spekulationen. Sollte Chailly mit diesem kurzfristig eingeschobenen Konzert tatsächlich seine künstlerische Visitenkarte als potentieller Nachfolger von Herbert Blomstedt im Amt des Gewandhauskapellmeisters abgeben, dann ist ihm dieses in optimaler Weise gelungen.
Die auf dem Programm stehenden Werke eigneten sich zum Vorführen dirigentischer Tugenden hervorragend. Da Chailly an diesem Abend ein hoch motiviertes Orchester zur Seite stand, das sichtlich musizierfreudig jede noch so subtile Geste des Dirigenten umsetzte, erfuhren die klanglichen Vorstellungen des Italieners eine kongeniale Umsetzung. Die von Chailly aus Prokofjews drei „Romeo und Julia“-Ballettsuiten zusammengestellte Musikauswahl überzeugte auf ganzer Linie. Schon bei der Zusammenstellung der Nummern auf Kontraste bedacht, spielte Chailly eben diese Kontraste wirkungsvoll aus, indem er dynamische Wechsel hervorhob, Tempi immer etwas schneller oder langsamer als üblich anging. Das Orchester folgte ihm willig, kleidete die einzelnen Sätze in ein je nach Bedarf duftig-zartes bis herbes Klanggewand und demonstrierte dabei Orchesterkultur auf höchstem Niveau. So geriet der berühmte Streicher-Klang des Gewandhausorchesters besonders einnehmend und die Solisten zeigten, dass sie ihren Anforderungen mehr als gewachsen waren und das ausnahmslos.
Die Pausengespräche zeugten von durchweg begeisterten Konzertbesuchern. Angesichts der überall zu vernehmenden Lobeshymnen auf Chailly und das Gewandhausorchester schien eine Steigerung schwer vorstellbar. Dass sie doch möglich war, bewies der zweite Teil des Konzerts.
Tschaikowskis fünfte Symphonie ist eines der am häufigsten gespielten Werke des Gewandhausorchesters. Erst vor wenigen Monaten wurde sie unter Blomstedt in einem hervorragenden Konzert aufgeführt. Da die Symphonie nicht nur ein Paradestück des Orchesters sondern auch ein Paradestück Chaillys ist, waren die Erwartungen entsprechend hoch. Sie wurden nicht enttäuscht. Was Chailly und das Gewandhausorchester hier an künstlerischem Engagement und technischer Perfektion boten, sucht seinesgleichen. Es herrschte äußerste Konzentration von der ersten bis zur letzten Minute. Chailly dirigierte das Werk auswendig, wodurch er jedes Prozent seiner Aufmerksamkeit dem Orchester widmen konnte. Und dieses dankte es ihm mit einer Hingabe, wie man sie selten erlebt. Chailly war ständig am Nerv der Musik, behielt immer den Überblick. Vor Wagnissen schreckte er nicht zurück: Die häufigen Tempowechsel, die vielen agogischen Freiheiten, die er sich erlaubte, hätten leicht ins Auge gehen können, wenn nicht die Chemie zwischen Dirigent und Orchester so hervorragend gestimmt hätte. Da dieses aber der Fall war, blieben fast keine Wünsche offen. Das berühmte Hornsolo des zweiten Satzes wurde bei aller Klangschönheit vielleicht etwas übervorsichtig angegangen, so als wollte der Hornist nichts riskieren. Chailly bedankte sich dennoch, indem er dem Hornisten nach dem Konzert seine Blumen übergeben ließ.
Überhaupt ging die Begeisterung der Musiker wie des Publikums nicht allein auf die Musikalität, sondern zum großen Teil auf die persönliche Ausstrahlung Chaillys zurück, der mit seinem ungekünstelten und frischen Auftreten sehr einnehmend wirkte. Nach einem phantastischen dritten und vierten Satz brach Begeisterung aus. Dem Publikum war anzumerken, dass es durchaus nichts dagegen hätte, Chailly öfter am Pult des Gewandhausorchesters zu erleben. Ob es nun dazu kommt oder nicht, ein überragendes Konzerterlebnis war es allemal.
(Frank Sindermann)
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