Eugen Ruge „Akte Böhme”, UA (Anna Kaleri)

15. Dezember 2001, Schauspiel Leipzig, Neue Szene
Eugen Ruge: ?Akte Böhme? (Uraufführung)

Regie: Andreas Dresen
Bühne: Matthias Fischer-Dieskau
Manfred Ibrahim Böhme: Matthias Hummitzsch
Frau Winkelmann: Ellen Hellwig u.a.


Alles schöne Märchen

Andreas Dresen inszeniert die Lebensgeschichte
des IM Böhme am Leipziger Schauspiel

Das Interesse am real existenten Menschen scheint für Regisseur Dresen, der mit Filmen wie ?Nachtgestalten? und ?Die Polizistin? ausgezeichnet wurde, Lebenselixier zu sein. In seiner dritten Theaterarbeit, die er nun am Leipziger Schauspiel vorlegte, bleibt er seinem dokumentarischen Ansatz treu und nimmt sich der widersprüchlichen Lebensgeschichte des 1999 verstorbenen Manfred Ibrahim Böhme an.

Quicklebendig dirigiert Böhme von seinem Bett aus die um einiges ältere, grau gekleidete, demütig schweigende Frau Winterfeld. Sie muss dem egozentrischen Kranken nicht nur den richtigen Tee kochen, sondern auch seinen Sessel heran schleppen, das Tonband bedienen und ihm die Füße massieren, besonders zwischen den Zehen. ?Glauben Sie wirklich an Gott?? stellt Böhme die Gretchenfrage, als gerade der Teekessel pfeift. Den Atheisten beschäftigt die Frage, ob er sich vor einem höheren Gericht für seine begangenen oder nicht gegangenen Vergehen verantworten muss. Was er im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Informeller Mitarbeiter des MfS eigentlich verschuldet hat, ob er nun die in einer Streichholzschachtel versteckten Poeme eines Dichters namens Hausmann an die Stasi weitergeleitet hat, erfahren wir nicht.

Aber: ?Wenn man nur lang genug überlegt, findet man für alles eine Erklärung.? Wir erfahren in dem Stück, dass sich Böhme in seine Lügengeschichten verstrickt und selbst zu Fall gebracht hat und dass er offensichtlich unter Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit litt: ?Ich bin tatsächlich in Mexico City geboren. Glauben Sie mir. Allein die Tatsache: meiner Mutter war Jüdin. Glauben Sie, eine Jüdin bringt 1944 in Deutschland ein Kind zur Welt? … Ich werde schreiben: ich bin geboren in Bad Dürrenberg an der Saale. Und basta. Obwohl ich keineswegs überzeugt bin davon.?

Ob nun Manfred oder Ibrahim, ob mehr Täter oder mehr Opfer ? in die Tiefen der Figur ist Autor Eugen Ruge kaum vorgedrungen. Aus seinen zwei Stücken, einer originalgetreuen Collage aus Akten zu Böhmes vorgetäuschter Flugblattaktion 1978 und einem Monolog im Sterbebett 1999 in Neustrelitz, ist es Dresen gelungen, eine spielfreudige Bühnenfassung zu entwickeln. Auf der Bühne werden denn auch alle Register gezogen: Aktenordner fliegen aus einer Klappe auf den Schreibtisch und verschwinden wieder in der Versenkung, die Beamtensprache wird karikiert und verhoneckert, die Richterin mit flammend rotem Haar und Zirkuslivree vollführt einen makabren Tanz mit dem Angeklagten, in den Zeugenstand berufen bescheinigen Volkspolizist, Kaderleiterin, Postbeamter und Bezirkssekretär Böhme 200-prozentiges gesellschaftliches Engagement. Uneins bleibt man sich in der Einschätzung von Böhmes Persönlichkeit: Öffentlich tritt Böhme ?auffallend positiv? auf, privat ?negativ bis negierend?. Er liest Marx und Trotzki und passt sich geschickt dem jeweiligen Gesprächspartner an. Aber auch übersteigertes Geltungsbedürfnis, ein fehlendes, klar umrissenes Lebensziel und die Bezeichnungen Spinner und Schauspieler werden vorgebracht. Da ist Böhme mit Hummitzsch gut besetzt, der als Faust mit der Intellektualität seiner Rolle etwas überfordert wirkte und in übertriebene Gesten auswich; hier spielt ein Schauspieler einen Schauspieler, der seinen Umgebung so zu blenden weiß, dass ihm alle Launen und Ungereimtheiten des Charakters verziehen werden.

Bis zum Ministerpräsidenten der Nachwende-DDR hätte es Böhme beinahe gebracht. Als seine Sternstunden gelten die Auftritte an der Seite von Willy Brandt Symbolisch spuckt Böhme auf die Geschichte, er werde in die Geschichtsbücher eingehen als einer der Mitgestalter der W…, doch da erliegt er einem Schwächeanfall. Und Frau Winterfeld erfüllt ihm seinen letzten Wunsch, wenn sie schon keinen Plattenspieler mit einer Don Giovanni-Aufnahme besorgen konnte. Sie erzählt dem Toten ein Märchen, das nur nicht grausam sein sollte, eine Böhmesche Version vom Mädchen mit den Schwefelhölzern mit den guten Onkels Lenin und Willy.

Inhaltlich muss sich das Stück vielfältigen Herausforderungen stellen, dem Protokoll und den abstrakten Figuren Leben einhauchen, dem Pathos Böhmes nicht verfallen, genügend Abstand zur jüngsten Geschichte einhalten, Feingefühl für die Wahrheit hinter den offiziellen Verlautbarungen entwickeln und schließlich einer höchst problematischen Einzelpersönlichkeit in einer verstrickten Gesellschaft gerecht werden. Das ist dem Regisseur mit überraschender Kurzweil und sympathischer Bildersprache gelungen, aber doch nur teilweise, was letztendlich auf die Stückvorlage zurück geführt werden muss. Denn wer oder was war Manfred-Ibrahim Böhme wirklich? Einer, der Angst vor Stubenarrest hatte? Das kann doch nicht alles gewesen sein.

(Anna Kaleri)

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