„Grosses Concert” mit Beethovens Neunter (Marcus Erb-Szymanski)

„Grosses Concert“ mit Beethovens Neunter
Gewandhausorchester, Dirigent: Herbert Blomstedt

Solisten:
Camilla Nylund, Sopran
Monica Groop, Alt
Thomas Sunnegard, Tenor
Ralf Lukas, Bass

Gewandhauschor, Gewandhauskinderchor
Choreinstudierung: Morten Schuldt-Jensen

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll mit Schlusschor über Schillers ?Ode an die Freude“

Leipzig goes to 2002

Wir schlagen uns eine Bresche quer über den Augustusplatz, gehen unseren Weg, der unvermeidlich an der Eisbahn vorbeiführt (einem Rudiment des vielgelobten Weihnachtsmarktes), auf der die Läufer fröhlich ihrer Runden drehen, geblendet von bunten Lichteffekten und betäubt von lauter Schlagermusik, deren Texte so obszön sind, dass sie hier nicht wiedergegeben werden können, registrieren noch das Plakat mit der dreibrüstigen Frau, das als Auswuchs einer plebejischen Kultur, wie wir sie im Arbeiter- und Bauernstaat nicht gekannt haben, für einen Billiganbieter wirbt und denken unwillkürlich beim Anblick des Zartrosas an Gottfried Benn (?Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch…?). Noch ehe wir unsere Assoziationen rekapituliert oder gar näher begründet haben, befinden wir uns in der himmlischen Kunstoase; das Foyer des Gewandhauses ist endlich erreicht.

Was wir sonst nur vom Finale kennen, erleben wir nun beim Entree: Schlangestehen vor der Garderobe. Da geht es gerecht zu, auch wer gebrechlich ist, muss sich hinten anstellen und er tut es mit freudiger Erregtheit. Heute ist niemand aggressiv, heute ist ein besonderer Tag. Und deshalb gönnen wir uns auch einen Kaffee vorm Konzert, der uns bald schon vereinsamen lässt, denn die Besucherflut kondensiert und verschwindet aufwärts über die Treppen im Saal. Bald schon sind wir allein (?Ist es wirklich schon so spät??), kein Nachzügler ist in Sicht und, besser ist besser, auch wir eilen hurtig nach oben.

Es ist zehn vor um (?Um die Zeit geh ich sonst erst los…?) und der Saal ist schon voll, alle haben ihre Plätze eingenommen und harren gespannt der Dinge, die da kommen. Und da kommen sie auch schon: der Gewandhauskinderchor, der Gewandhauserwachsenenchor, der MDR Profichor, das Gewandhausorchester und dann, endlich, Herbert Blomstedt. Die Herzen der Leipziger schlagen schneller, ihre Hände nicht minder, eine Welle der Sympathie rollt ihm wie so oft entgegen. Und diese Sympathie beruht ein Stück weit wohl auch auf der unverletzt gebliebenen Gewissheit, dass Beethovens Neunte am Ende des Jahres so sicher ertönt wie das Amen in der Kirche. Und diese Sicherheit überträgt sich nun auf uns, wenn wir die ersten drei Sätze geduldig abwarten, weil wir wissen, dass uns dann der vierte nicht vorenthalten wird; denn wenn wir ehrlich sind, sind wir doch vor allem wegen des Schlusschores da.

Während ich mich im ersten Satz versuche zu sammeln, die Strapazen des Hinwegs zu verarbeiten und mich auf die Musik zu konzentrieren, schweifen meine Gedanken ab. Diese Neunte gehört seit fast zweihundert Jahren zum ständigen Repertoire des Gewandhausorchesters. Hier in Leipzig wurde Beethoven schon zu Lebzeiten regelmäßig gespielt, bewundert und geliebt. Doch gerade bei der Neunten teilten sich die Meinungen. Die übermäßige Länge und der gewaltige Schlusschor ließen sie als ein gar zu heterogenes Gebilde erscheinen. Dennoch wurde sie 1826 gleich dreimal im Gewandhaus aufgeführt und erklang auch in den folgenden Jahren regelmäßig wieder. Aber Leipzig war damit etwas Besonderes. Denn im Allgemeinen galt dieses Werk als das Hirngespinst eines der Welt Verlorengegangenen, als ein Monstrum. Bestenfalls staunte man die Komposition an wie ein wildes Tier, zuweilen ließ man bei Aufführungen den Chor ? nicht nur aus pragmatischen Gründen ? weg.

Doch still ihr schulmeisterlichen Gedanken, eben beginnt schon der zweite Satz! Horcht wie herrlich die Musik vorüberhuscht, wie schnell und dabei doch luftig dieses Scherzo gerät. Und wie außerordentlich schön sind wenig später die Streicherkantilenen im Adagio…

Aber dann muss ich plötzlich an Adolph Bernhard Marx denken, einen ernsten Mann, der sich als Publizist und Professor der Musik in Berlin vehement für Beethoven eingesetzt hat. Um 1840 schrieb er einen langen Aufsatz, in dem er ausführlich begründete, warum die Neunte einen Schlusschor mit ästhetischer Notwendigkeit besitzen muss und dieser daher nicht als Laune eines eigenwilligen Künstlers zu verstehen ist. Zwar sei Beethoven als höchst origineller Künstler und auch bedingt durch seinen Taubheit bisweilen der Welt abhanden gekommen und habe darunter auch gelitten. Doch diesen Konflikt des einsamen Genies trage er vor allem in der Instrumentalmusik aus. So auch in den ersten Sätzen der Neunten. Hier ginge Beethoven unerschrocken seinen Weg in unerforschte Tiefen der Natur, wohin ihm keine Menschenseele folgen könne und gelange schließlich an den Ort, wo das Individuum sich selbst die Gesetze vorschreibt, weil es die Welt hinter sich gelassen hat. Doch dann, im vierten Satz, kehre er plötzlich zurück. Nicht als verlorener Sohn, sondern als Prophet, als einer, der die Wahrheit gefunden und der Menschheit gebracht hat. Und in dieser Versöhnung mit der Welt braucht die Musik Beethovens die Sprache, den Text, um sich trotz ihrer neuen Formen und unermesslichen Tiefe verständlich zu machen.

Dies ist die Art von Humanismus, die man damals in der Musik Beethovens zu entdecken glaubte. Doch wie anders ist das heute. Das erste Ertönen des Themas in den Celli, das mich nun in die Realität zurückholt (?Wir sind tatsächlich schon im vierten Satz!?), klingt wie die Aufschrift eines Zieltransparents, auf dem nicht die Ankunft verkündet wird, sondern die Erleichterung, dass es nun endlich losgehen kann. Blomstedts Beethoven ist eine Welt ohne Geheimnisse. Alles ist am rechten Fleck, keine überraschenden Tempo- oder Lautstärkewechsel verstören den Hörer. Wenn sich das Orchester einmal in der rechten Stimmung eingeschwungen hat, ist es fortan nicht mehr aus der Ruhe zu bringen.

Nun weiß ich auch, warum mir Marx in den Sinn kam und worin sich die heutige Leipziger Beethovenauffassung von der damaligen unterscheidet. Beide verhalten sich genau entgegengesetzt zueinander. Der moderne Beethoven ist ein domestiziertes Genie. Er hat seine Wildheit verloren. Der Dirigent kennt ihn gut (er dirigiert sogar auswendig), das Orchester kennt ihn gut (auch wenn es nicht auswendig spielt) und die Zuhörer kennen ihn auch. Alle wissen, was sie erwartet und keiner möchte in seinen Erwartungen enttäuscht werden. Und Blomstedt enttäuscht niemanden. Sicher und sanft führt der das Schiff durch klippenlose Gewässer in den Zielhafen des vierten Satzes und dann, auch darin enttäuscht er uns nicht, geht es erst richtig los.

Denn der Hafen erweist sich als stürmische See. Das leichte Wiegen des Tempos ist wie weggeblasen. Die Verdichtung und Intensität, die im Verlauf des Satzes beständig zunimmt, wird nicht selten durch leichte Verschärfung des Tempos unterstützt. Die Brüche zwischen den einzelnen Charakteren der verschiedenen Strophen treten schroff hervor und unvermittelt trennen sich die verschiedenen Abschnitte wie einst die Erdteile voneinander. Auch das ?Konzertieren? zwischen Chor und Orchester ist im wahrsten Sinne des Worts als ein Streiten zu verstehen, wobei die metallisch-strahlende Kraft und Euphorie des Chors ihre Wirkung nicht verfehlt und ihm am Ende die meisten Bravos einbringt. Und auch die Solisten schlagen sich wacker und es gelingt ihnen, zwischen den gewaltigen Urelementen Chor und Orchester nicht völlig aufgerieben zu werden.

Wie gesagt: Die moderne Beethoveninterpretation verhält sich genau umgekehrt zur damaligen. Was damals Kampf, Geheimnis und Drama war, nämlich die Instrumentalmusik, ist nun apriorische Gewissheit, Harmonie und Evidenz des Schönklangs. Was damals Versöhnung war und Verbrüderung, nämlich die Ode an die Freude, ist heute das finale Aufbieten aller Kräfte zur triumphalen Erstehung der gesamten Beethovenschen Erlebniswelt.

Beethoven und Leipzig, das ist die Geschichte einer wunderbaren Liebe. Nach zweihundert Jahren hat diese Liebe einiges an Dramatik verloren, dafür ? wie bei einem alten Ehepaar ? umso mehr an Vertrautheit gewonnen. Wer zum Jahresende ins Gewandhaus geht, weiß im Voraus, dass er jubeln wird. Daher schlägt mit dem Schlusston die Stunde der Bravo-Wölfe, die vier lange Sätze still in ihrem Winkel gelauert haben, um nun ? rechtzeitig, bevor der Dirigent den Stab sinken lässt ? ihr Bravohouuu in den Saal zu heulen, ehe ihr nicht ungehört bleibender Ruf vom Beifallsbrausen übertönt wird.

Auf den teuersten Plätzen ist man ? der Führungsrolle bewusst ? bereits aufgestanden. Dies zeigt Wirkung: wie eine mexikanische Welle (ein Ausdruck aus dem Fußballmilieu) in Zeitlupe breiten sich die ?standig ovations? aus. Wer jetzt noch was sehen möchte, muss sich ebenfalls erheben… Nun kann es Silvester werden, wir sind bereit für das neue Jahr.

Es dauert lange, bis wir wieder zu unseren Mänteln kommen und zusammen mit den anderen Menschen aus dem Gewandhaus herausgespült werden. Nun lassen wir den Abend noch ruhig ausklingen, indem wir uns in irgend einem Lokal ein wenig anschreien, um die laute Musik dort zu übertönen (welche Kneipe möchte schon ein ?Stilles Örtchen? sein), bevor wir dann ein wenig angetrunken und dennoch ernüchtert nach Hause gehen mit der trivialen Erkenntnis, dass sich in den letzten zweihundert Jahren mehr verändert hat als in den vergangenen zehn und dass wieder mal ein neues Jahr zum Greifen nah ist.

(Marcus Erb-Szymanski)

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