Igor Bauersima: norway.today, Premiere (Ian Sober)

Igor Bauersima: norway.today, Premiere

Julie: Constanze Becker
August: Stefan Kaminsky

Regie: Thorsten Duit
Bühnenbild: Thomas Weinhold
Kostüme: Claudia Schinke
Dramaturgie: Carmen Wolfram

Zu kalt für Julie und August

Eigentlich weiß man nicht so recht, warum sie sich das Leben nehmen wollen: Julie und August, die sich zu diesem Zweck übers Internet finden. Dabei ist Julie (Constanze Becker) die entschlossenere, die treibende Kraft, die scheinbar alles verstanden hat an ihrem Entschluß. Zweifel prallen an ihrer flapsigen, arroganten Schale ab. Zweifel, zu denen sich August (Stefan Kaminsky), der neunzehnjährige, zwar nicht bekennt, aber die er immerhin einstreut, wie beiläufig. Am letzten Tag, am Rand einer Klippe in Norwegen.

Keine sinnliche Inszenierung, wie man bei dieser Thematik vermuten wird. Doch was Regisseur Thorsten Duit in der Neuen Szene auf die Bühne bringt, hält einige Überraschungen bereit. Vor Beginn der Vorführung sind die Zuschauer in fahlgrünes Neonlicht getaucht und sehen selber aus, als wäre ihr Ende nicht fern. Bequem zurücklehnen können sie sich nicht: Für Ungemütlichkeit ist also gesorgt. Die Bühne (Thomas Weinhold) ist in schlichtem Grau gehalten, eine zerklüftete, nach hinten ansteigende Rampe. Darüber eine breite Leinwand, die wahlweise den Himmel darstellt oder den Blick auf Julies Camcorder-Bildschirm zuläßt. Einmal kann man dort das Nordlicht sehen. Ansonsten sind es die Protagonisten selber, die das von ihnen verachtete Leben immer wieder aufblitzen lassen.

Anfangs freilich nicht: Das einzig Erfreuliche sind da die Farben ihrer Kleidung. August in cooler Jack-Wolfskin-Kluft mit baumelnden Hosenträgern, Julie eher romantisch, im fellbesetzten Wildledermantel. Man ödet sich an. Das Hilflose Gelaber des Jungen, der den Fjord für einen Fluß hält und auch sonst nicht viel Geistreiches von sich gibt, läßt die vielleicht nur unwesentlich ältere Initiatorin der Aktion – die sich aber um vieles reifer gibt – mit bissigem Zynismus antworten. Doch dann fallen beide fast von der Klippe, unfreiwillig, und der Schreck läßt sie auftauen.

Und jetzt wird es wirklich interessant: Man bedient sich der Videokamera, um eine Abschiedsbotschaft aufzuzeichnen. Die eingangs demonstrierte Entschlossenheit („Leben ist ein Fake. Ich fang nicht noch mal von vorne an.“) hatte den Zuschauer vermuten lassen, die Gründe für den Selbstmord müßten irgendwie evident sein. Aber sie sind es nicht. Man versucht ein Statement und widerruft es sogleich. Irgendwie wirkt es lächerlich. Also nächster Versuch: Doch die Aussage ist diesmal eine ganz andere. Sobald man sich festgelegt hat auf einen Satz, ist dieser, von außen betrachtet, fremd geworden, hat nichts mehr mit einem selbst zu tun. Was sind diese Sätze? Julie: Ich hatte alles. Ich war überall, und der Rest war im Fernsehen. Ihr habt mir alles gegeben, aber keiner von Euch kann mir NICHTS geben, nur ich. August: Ich habe nie das Bedürfnis verspürt, für irgend etwas die Ursache zu sein. (Schließlich gelingt August ein wirklich überzeugender Auftritt, doch er gesteht sofort ein: Das war geklaut. Julie gelangt zu der Ansicht, daß man faken muß, um glaubwürdig zu sein. Womit eigentlich das, was Kunst will, auf den Punkt gebracht wird.)

Das Spiel mit der Kamera, an dem die großartig agierenden Schauspieler sichtlich Freude haben (es ist einfach toll, wie sich Stefan Kaminsky scheinbar unfreiwillig verwandelt, sobald er aufgenommen wird), problematisiert die Selbstwahrnehmung „von außen“, die zweifellos eine Gegenwartserscheinung ist. Das eigene Leben wird projiziert und anschließend als Zuschauer betrachtet. Schließlich liefern uns Kino und Fernsehen genügend Klischees für den eigenen Lebensentwurf. Doch das Leben zerfällt, läßt sich nicht als zusammenhängende Geschichte beschreiben. Hier irgendwo liegen die Ursachen für die Todessehnsucht der beiden, denn wie Filmstars sehen sie zweifellos aus, bloß die zwingende Story fehlt ihnen.

Doch dann glaubt man fast ans Happy Ending: Nach einer wundervollen Szene, in der beide beschreiben, was sie täten, wenn sie miteinander schlafen würden – im Angesicht der grenzenlosen Freiheit in unmittelbarer Nähe des Todes – hat das Leben scheinbar wieder die Oberhand gewonnen. Ihr Sturz vor dem blutroten Himmel am nächsten Morgen wirkt um so irrealer. Das Ende der Welt kommt im Morgengrauen. Logout.

(Ian Sober)

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