Goldmann! musica nova (Enrico Ille)

30.01.2002 Goldmann! musica nova

Friedrich Goldmann:

-Trio für Flöte, Schlagzeug und Klavier (1966/67)
-3 Etüden für Klavier (2001), Uraufführung
-Streichquartett Nr. 2 (1996)
-Linie/Splitter für Kammerensemble (1997)
-Für 2 Klaviere (1993/94)

Enno Poppe:

-Holz für Klarinette & kleines Ensemble (2000)

Ensemble Avantgarde
Leipziger Streichquartett
Christian Vogel, Klarinette

Leitung: Friedrich Goldmann


Es ist nicht alles Gold, was glänzt, aber einiges …
Ein Geburtstagskonzert für Friedrich Goldmann zum Sechzigsten

Für gewöhnlich ist man ziemlich aufgeschmissen, wenn man bei Neuer Musik nicht nur die Einführungsveranstaltung verpasst hat, sondern auch das zugehörige Hinweisblatt nicht liest. Dann begibt man sich in einen undurchdringlichen Wust aus unverständlichen Unwegbarkeiten, an deren Ende nur die ernüchterte Frage steht, wo bei dem Gehörten denn die Musik gewesen sei. Häufig ist Neue Musik Eigenproduktion im vollsten Sinn des Wortes: aus sich selbst für sich selbst. Und wer gewisse Informationen nicht hat, wird kaum in der Lage sein, diesem Selbst sinnvoll zu begegnen.

Ich muss zugeben, als ich mir am 30. Januar abends um acht im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses aus der Vielzahl an möglichen Sitzgelegenheiten eine ausgewählt habe, um dem dritten musica nova Konzert dieser Saison zu lauschen, und die ersten Töne des Trios für Flöte, Schlagzeug und Klavier vernehme, scheinen sich meine Befürchtungen zu bewahrheiten. Sicher, einige Dinge habe ich mir angelesen. So weiß ich, dass der 1941 bei Chemnitz geborene Friedrich Goldmann Kruzianer und Stockhausen-Schüler gewesen ist, dass er vor seiner freischaffenden Komponistentätigkeit bei Johannes Paul Thilman und Rudolf Wagner-Régeny Komposition und danach noch Musikwissenschaft studiert hat, auch dass er in den Neunziger Jahren Präsident der deutschen Sektion in der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik war. Aber was sagt das schon.

Dann aber die Überraschung: Was hier erklingt, ist ohne weiteres spürbar, erkennbar, nachvollziehbar, das ist Klangspiel und auch strukturelle Tiefe, das sind Gedanken, die sich deutlich sicht- oder besser hörbar vor einem ausbreiten. Der Schlagzeuger spielt mit wechselnd dominierenden Instrumentarien, erzeugt beinahe sanfte Arpeggien in ruhig schwebenden Zwischensequenzen, um dann wieder laut mit dem Becken zu scheppern oder in den vibrierenden Tongemischen der Gongs zu verhallen. Ähnlich agiert das sehr oft perkussiv eingesetzte Klavier. Stark pedalisierte Cluster in der Tiefe imitieren das Schlagwerk ebenso wie schnelle Tremoli in hohen Lagen. Und diese verwirrende Klangvernetzung wird umspielt von der Flöte, die ihre weiten Phrasen mit irgendwie asiatisch anmutender Ruhe entfaltet, dann in den wilden Tonwirbel der beiden anderen einsteigt, sich daraufhin aber wieder erhebt.

Mir drängt sich der Verdacht auf, dass hier ein Künstler mit zugleich unheimlicher und angenehmer Schaffensruhe sowie abgeklärter Geduld agiert, unheimlich in seinem Anachronismus, angenehm aus eben demselben Grund. Dabei ist Goldmanns Musik keinesfalls ohne Innovationen, und die scheinbar kontemplative Ruhe des Schöpferischen erschöpft sich nicht in weiten New-Age-Landschaften. Das völlige Gegenteil ist der Fall!

Was Virtuosität und Innovation beim ehemaligen Lehrer Steffen Schleiermachers angeht, zeigen die drei von diesem uraufgeführten Etüden für Klavier, die jetzt folgen. Bei der ersten handelt es sich um ein Wechselspiel zwischen aufsteigenden Skalen, die langsam an größerer Form gewinnen, und langen Akkorden, die durch raffiniertes Pedal- und Fingerspiel nicht auf-, sondern abgebaut werden. Diese beiden Elemente werden progressiv vermischt und am Ende in umgekehrter Lage gebracht. Das Spiel mit den Akkorden wird in der zweiten Etüde fortgesetzt, während die dritte schwierige metrische Verhältnisse aufweist. Die gehörigen virtuosen Ansprüche der drei Werke werden eindrucksvoll von Schleiermacher erfüllt. Fast fühlt man sich an legendäre Erzählungen von Beethoven- und Liszt-Konzerten erinnert, als sich das Geräusch einer gerissenen Saite in die Musik mischt.

Aber auch hier drängt sich mir wieder der Gedanke an östlich-philosophische Behandlung von Gegensätzlichkeiten und ihrer Entfaltung in sorgfältig bedachten Entwicklungen auf. Der Entwicklungsgedanke scheint neben dem Klang als Experimentierfeld elementar für diese Musik zu sein.
Klangliches Experimentieren prägt auch das 2. Streichquartett, welches zeitlich zwischen den zuvor erklungenen Werken Goldmanns liegt. Aus einem einzelnen Ton, der zunehmend ungefährer wird, entstehen Intervalle, Linien und Verflechtungen. Das ungewisse Instrumentarium von ineinanderliegenden hohen Streichern und einem Cello, das durch schleichende Glissandi kaum als solches erkennbar wird, verwandelt sich poco a poco in einen identifizierbaren Streichquartettklang, der sich am Ende des einsätzigen Stückes wieder auflöst. Und dieser Klang ist äußerst vielgestaltig: auf die Saiten schlagende Bogen, verschiedenste Pizzicati (die mich immer wieder an den zweiten Satz von Ravels Streichquartett erinnern), die angesprochenen Glissandi, kurz Gestrichenes, breit Gezogenes, fast alles Mögliche ist vertreten. Es macht Spaß zuzuhören und zu entdecken.

Die unendlich scheinenden, zögernd verfliegenden Tonsilhouetten mit zwischenzeitlich gar kadenzierenden, aber trotzdem weiterspinnenden Klängen machen jedoch vor allem eines deutlich: Der Komponist verlangt nicht nur von sich selbst, sondern auch vom Zuhörer viel Geduld und Langmut. Ich selbst bringe sie nicht die ganze Zeit auf. Zwischendurch betrachte ich ein vor mir sitzendes Paar, das sich unverhohlen über andere Zuhörer unterhält und nach der Pause verschwunden ist. Aus irgendeinem Grund denke ich an Georg Kreisler. Hinter mir erzählt ein Mann schon zum dritten Mal, dass man solche Musik doch woanders nicht mehr zu hören bekäme, aber seine wechselnden Gesprächspartner geben dem Ganzen einen Touch von Variation und erfreuen so durch einen sprachlichen Kontrapunkt zur gehörten Musik.

Ich nutze die Pause, um mich mit den angenehm ausführlichen Informationen des Konzertheftes zu bereichern. Ich lese über Goldmanns Briefwechsel von 1959 mit Karlheinz Stockhausen, der wohl schon immer so wie heute war (?Es stimmt, daß unsere Kultur zum großen Teil dekadent ist?), sehe Schlagworte wie ?Courage zur Gegenwart?, ?Radikalität und Selbstvertrauen? und finde meinen eigenen Konzerteindruck in Sätzen wieder wie: ?Faszinierend war die Unmittelbarkeit und Frische seiner Musik. Die Kompositionstechnik schob sich nicht als Barriere zwischen Musiker und Hörer.? Ich glaube, dass das die ungewöhnliche Stärke bei Goldmann ist, der bei Leibe nicht traditionell oder zweckgebunden schreibt.

Nach vielen Namen von Vorbildern, Werken und interessanten Ausführungen über den ?unpolitischen? Goldmann erblicke ich ihn am Ende der Pause selbst, wie er sein Werk ?Linie/Splitter für Kammerensemble? von 1997 dirigiert. Hier begegnet mir zum ersten Mal die verwirrende Zersplitterung (wie verwunderlich) und kompliziert-undurchdringliche Machart, die es mir fast nicht ermöglicht, dem Stück zu folgen. Einzelne Tonfolgen schnappe ich auf, doch kaum etwas bleibt hängen. Ich nutze die Zeit der Verwirrung, um andere Details der Performance in Betrachtung zu ziehen und stelle zu meiner Freude fest, dass die Musiker so gekleidet sind, wie sie spielen: lockere Hemden, Hosen in dunkel gesetzten Farben, der eine mit wilder Mähne, der andere mit kurz geschorenem Haar, bunt und doch stimmig. Nur einer fällt wieder einmal aus der Reihe – der Bratscher natürlich! Brav im Anzug mit Weste und schwarzer Fliege bekommt er nur vom streng gekleideten Goldmann Gesellschaft. Die Tradition setzt hier den schrillen Kontrast. Äußerst gelungen, wenn auch vielleicht nicht geplant.

Letzteres lässt sich nur teilweise vom vorletzten Stück des Abends sagen: Gelungen und geplant findet man sich wieder in verwirrenden Klangähnlichkeiten, die die beiden Klavierspieler anfangs nur durch ihre Bewegungen unterscheidbar machen. Ich versuche mich auf die Illusion einzulassen und schließe die Augen, um die Vorstellung eines Pianisten perfekt zu machen. Aber plötzlich erwächst aus den eben noch einzelnen, rhythmisch verhakten Stimmen ein gewaltiges Grollen eines Klangorkans, das mich erschreckt die Augen aufreißen lässt, da die Vorstellung, dies würde von zwei Händen hervorgebracht, wirklich beängstigend ist. Auch wenn ich jetzt beide hämmernden Pianisten sehe, treibt das Stück weiter von mir fort, über kleine, an Bartók erinnernde, verspielt rhythmisierte und harmonisierte einfache Melodieteile und eine fortwährende Repetition auf einem Ton, die die Spieler sich ?teilen?, bis hin zum bockig wirkenden brutalen Abbruch mit einem Ellbogencluster. Und es geht weiter, immer weiter.

Der gleiche Gedanke, aber in einem anderen Sinn, kommt mir auch beim Abschlussstück, das von dem jungen Komponisten Enno Poppe stammt. Als unangenehm unruhig und fast schon aggressiv empfinde ich nach dem bedächtigen Vorgänger das unausgesetzte Stimmengewusel des kleinen Ensembles: verschiedene Streicher und Bläser, umrahmt von einem Kurzweil-Piano und Perkussion mit Flaschen, das eine solistisch agierende Klarinette begleitet; ständig Bewegung, ohne erkennbare Struktur.

Wahrscheinlich bin ich nach zwei Stunden Neuer Musik nicht mehr aufnahmefähig genug. Aus dem Heft erfahre ich, dass das Stück eigentlich interessant sein müsste, vielleicht ist es zu schwierig, um so spät noch zu erklingen. Ich bin nun einmal als launischer Zuhörer so frei, am Ende zu sagen: Goldmann war toll und interessant, Poppe möglicherweise auch, aber nicht für mich. Auf jeden Fall aber war das Ganze ein spannendes Erlebnis.

(Enrico Ille)

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