„Komponisten als Dirigenten”, Interview mit Peter Ruzicka (Spranger, Gersthofer)

Peter Ruzicka, Komponist, Dirigent, Intendant:
ein neuer Blick

In der Konzertreihe „Komponisten als Dirigenten“ des Mitteldeutschen Rundfunks ist am Dienstag, den 19.02.2002, Peter Ruzicka zu Gast, um drei seiner eigenen Werke sowie zwei Fragmente des Mahlerschen Oeuvres zur Aufführung zu bringen. Marie Babette Spranger und Wolfgang Gersthofer sprachen mit dem Komponisten, Dirigenten und amtierenden Intendanten der Salzburger Festspiele über sein Werk und seine künstlerischen Visionen.Die Reihe des Mitteldeutschen Rundfunks, im Rahmen derer Sie am kommenden Dienstag auftreten werden, heißt „Komponisten als Dirigenten“. Wie oft kommt Peter Ruzicka eigentlich zum Dirigieren?

Etwa sechs bis acht Mal im Jahr, was zeitlich doch einiges ausmacht, da die Vorbereitungen eines Konzertes mit den entsprechenden Proben nicht unter einer Woche zu realisieren sind. In der Regel wird erwartet, dass man auch eigene Werke dirigiert – hier in Leipzig sind es sogar drei: Nachtstück, Erinnerung und Satyagraha , – so dass ich eigentlich „Composer Conducter“ bin und eher selten Konzerte mit ausschließlich traditionellem Repertoire dirigiere.Auf dem Programm des Konzertes stehen neben ihren eigenen Werken Einzelsätze von Gustav Mahler. Welche Rolle spielt Mahler für Sie als Komponisten?

Mein persönliches Mahler-Erlebnis geht zurück auf die 70-er Jahre, in denen seine Musik – unterstützt durch so periphere Ereignisse wie den Visconti-Film [Tod in Venedig] und die Mahler-Monographie Adornos aus dem Jahre 1960 – viele Rätsel für mich zu lösen vermochte, die ich damals in mir trug, aber kaum auszusprechen oder zu dechiffrieren in der Lage war. So habe ich Mahler als wesentliche Instanz für mein Komponieren entdeckt, sowohl hinsichtlich des Anspruches an das Weltganze, das sich bei Mahler konstituiert, als auch bezüglich seiner Aspekte von Musik über Musik, einer musica negativa, die Musik in eine Perspektive zu sich selbst und zu anderer Musik geraten lässt. Eine Vielzahl meiner Stücke verdankt sich diesen Erkenntnissen, so dass es naheliegend erscheint, die Aufführung meiner eigenen Werke mit denen Mahlers in einen Kontext zu stellen.Was reizt Sie an der Aufführung eines Satzes wie der „Blumine“, den Mahler aus seiner ersten Sinfonie später wieder ausgeschieden hat in Verbindung mit dem ersten Satz aus Mahlers zweiter Sinfonie, der sogenannten „Totenfeier“.

Es besteht ein wichtiger Zusammenhang zwischen der Totenfeier und der Blumine, da beide als Blick in die Mahlersche Werkstatt dienen: Der Blumine-Satz, den Mahler ursprünglich seiner Schauspielmusik zum Trompeter von Säckingen entnahm und der in der Urfassung der ersten Sinfonie eine wichtige Funktion innehatte, dokumentiert bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt Mahler in seiner kompositorischen Ganzheit. Die Totenfeier – als Urzelle der zweiten Sinfonie – besteht als eine in sich abgeschlossene, eigenständige sinfonische Dichtung. So ergibt sich aus diesen beiden Vorstudien bzw. Vorfassungen der späteren Werke ein eigener dramaturgischer Kontext, den das Konzert in dieser Form aufgreift.In Ihrem „Nachtstück“ erinnert ja einiges an Mahler – die Ferntrompete zum Beispiel. Allerdings drängt sich auch eine Assoziation zu Charles Ives „Unanswered Question?“auf. Sehen Sie hier einen Zusammenhang?

Diese Frage wurde auch von Seiten der amerikanischen Kritiker bei der Aufführung des Stückes mit dem New York Philharmonic im Januar gestellt, die es aus ihrer amerikanischen – und von Ives´Musik geprägten – Perspektive beleuchteten. Mir hat es nicht als Zitat vorgeschwebt, sondern eher als „als ob“. Unanswered Question ist eine so außergewöhnliche Musik – mit ihrem liegenden Streicherklang und dem Trompetensignal -, dass es nach einmaligem Hören im Bewußtsein fortdauert und zwangsläufig in die eigene kompositorische Reflexion einfließen muß.Wie ist im „Nachtstück“ der Klammerzusatz „aufgegebenes Werk“ zu verstehen?

Es handelt sich hierbei nicht um ein Fragment, sondern um eine Musik, die quasi schon immer da war, die sowohl vor dem ersten klingenden Ton virtuell vorhanden war, als auch nach dem letzten Ton vorhanden sein sollte. Insofern ist der Schluss in Form des Doppelstrichs ein vorläufiger, imaginärer, der das Stück loslässt bzw. aufgibt. Das Stück vollzieht sich hinsichtlich seiner Gesamtanlage als Annäherung und Entfernung sowie als Continuum.Dies erinnert an manche Formulierung Ligetis zu seinen Werken. Haben diese für Sie eine Rolle gespielt?

Vielleicht unbewußt, da ich mit Stücken wie Atmosph?re oder Lontano aufgewachsen bin. Wir haben an diesen Werken unser Handwerk geschärft, sie haben uns fasziniert und elektrisiert und uns auch technisch als Vorbild gedient.Vielleicht könnten Sie kurz die beiden anderen Stücke des Abends, „Erinnerung“ und „Satyagraha“, charakterisieren.

Satyagraha nimmt in meinem Werkkatalog quasi eine exterritoriale Position ein, da es die Form der Dialektik verlässt, die für mich immer im Vordergrund stand und aus der unsere gesamte mitteleuropäische Tradition polarer Begrifflichkeiten resultiert. Für dieses Stück habe ich das polare Bezugssystem verlassen, um eine monistische Musik zu schreiben, welcher der Kontrast nicht als Wirksamkeitsvoraussetzung dient. So führt im Rahmen einer scheinbar entwicklungslosen Struktur ein sich aus unterschiedlichen Keimzellen immer wieder neu zusammenfügender Canto in einem Variationsprozess durch das Stück und bleibt am Ende als Erfahrungshorizont bestehen. Der Titel Satyagraha geht zurück auf Gandhi und beschreibt das Festhalten und Bewahren einer als unbedingt erkannten Wahrheit – kein Relativismus und keine Dialektik. Dies mag auch ein Grund für die spontane Annahme oder Ablehnung des Stückes von Seiten des Publikums sein, da wir uns aus dem Denkprozess der Dialektik nur schwer zu lösen scheinen.
Das Stück Erinnerung geht wieder einen eher dialektischen Weg und spielt mit verschiedenen musikalischen Sprachen, die aufeinander bezogen werden. Ich nehme hierin Bezug auf ein Orchesterfragment aus dem Jahre 73, als ich im Begriff war, eine neue musikalische Sprache für mich zu erfinden, und spiele mit diesem. Die Klarinette dient hierfür als „tertium comparationis“, um in das alte Material einzudringen. Die in der Oper Celan angelegte Doppelbödigkeit der Erinnerung wird strukturell aufgegriffen, indem eine wiederkehrende musikalische Gestalt übermalt oder durch Überlagerungen verfremdet wird; so entsteht ein Spiel mit Wahrnehmungsebenen.Im Zusammenhang mit Ihrer Oper Celan sagten Sie einmal, dass Sie hierfür Ihre „Fragmentästhetik“ verlassen mussten. Hat sich Ihr Komponieren durch die Erfahrung Oper verändert?

In der Tat waren viele Stücke vor der Oper einer gewissen Fragmentästhetik zugehörig, welche das Element das Abbruchs und des Spiegels auf sich selbst verwendet hat. Ich habe zwei Jahrzehnte darüber nachgedacht und eine Sprache gesucht, um überhaupt eine Oper schreiben und diesen großen Bogen spannen zu können. Dies war auch ein Prozess des Sich-frei-Schreibens, in dessen Folge die musikalische Welt eine andere wird, als sie vorher war. Somit hatte die Oper für mich auch eine kompositorische Wendefunktion.Welche zeitgenössischen Opern haben Sie besonders geprägt im Hinblick auf ihr eigenes Werk?

Ein wichtiges Erlebnisse waren sicherlich die Soldaten, die ich 1973/74 in Hamburg erlebte; ein Stück, mit dem man nie ganz abschließt und bei dessen Analyse immer wieder Neues zu entdecken ist. Und selbstverständlich Lear von Reimann sowie Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, welches ich in Hamburg herausgebracht habe. Wenn ein Stück das musikalische Weltbild verändert, und man dieses – wie bei Lachenmann – quasi als Geburtshelfer mit ermöglicht hat, dann resultiert daraus eine große Wirkung auf die eigene Entwicklung.Ist es denkbar, dass Peter Ruzicka irgendwann eine zweite Oper schreibt?

Frühestens 2006, nach Salzburg. Diese würde sich wahrscheinlich mit dem späten Hölderlin befassen ? und würde dann schon den Beginn meines Spätwerks einleiten.Sie sprechen Ihre Tätigkeit in Salzburg an. Welche konzeptionellen Ideen und Ziele werden Sie dort verfolgen, auch hinsichtlich zeitgenössischer Werke?

Ich versuche perspektivisch einen Zeitraum von 5 Jahren zu konzipieren; die Planung hierfür fußt auf einem Fünf-Säulen-Modell: Zum Ersten wäre der Mozart-Zyklus zu nennen, der bis in das Jahr 2006 reicht und die Vision verfolgt, alle 22 Bühnenwerke zu realisieren. Daneben steht ein Strauss-Zyklus unter dem Motto „Strauss von der Zukunft her gesehen – ein neuer Blick“, welcher das Zukunftspotenzial straussscher Musik ins Blickfeld rücken soll und auch seltener gespielte Opern wie etwa Die Liebe der Danae zur Aufführung bringt.
Des Weiteren stehen Komponisten der österreichischen Emigration wie etwa Zemlinsky, Korngold, Schreker im Zentrum des Interesses. Dieser Zyklus wird sich ineinandergreifend mit den anderen über mehrere Jahre erstrecken und soll auch szenisch von besonders wirksamen Produktionen begleitet sein. Es wird eine jährliche Uraufführung geben – mit Ausnahme der diesjährigen Lachenmann-Oper, die eine Dritt-Realisierung darstellt – mit Werken von Henze, Hosokawa, Pintscher und von Olga Neuwirth. Die fünfte Säule legt ihren Schwerpunkt auf die sogenannte „Große Oper“ und will sich Werken annehmen, die ein bislang ungelöstes Potenzial in sich tragen, wie etwa Hoffmanns Erzählungen oder in diesem Jahr Turandot mit dem neuen Schluss von Luciano Berio.
Ebenso sollen thematische Verbindungen hergestellt werden zwischen Oper und Konzert durch entsprechend „komponierte Programme“ oder „Programminseln“, die beide Sparten umrahmen. So befasst sich eine dieser „Programminseln“ auch mit fragmentarischen Werken, wie Turandot und König Kandaulus, Mahlers zehnter oder Bruckners neunter Sinfonie.Wie stehen Sie zu den Vollendungsversuchen solcher Fragmente?

Da liegt jeder Fall anders. Im Hinblick auf Mahlers zehnte Sinfonie erscheint es legitim zu versuchen, die künstlerische Substanz ahnen zu lassen in den Sätzen, die über das Adagio hinausgehen. Bei anderen Werken ertrage ich es schlicht und einfach nicht; so führen wir diesen Sommer Mozarts Requiem auf und brechen nach dem Lacrimosa ab – und schließen daran mit der Jakobsleiter von Schönberg an. Mit anderen Stücken wird man nie zurechtkommen, wie etwa dem Finale von Bruckners neunter Sinfonie; hier wird Nikolaus Harnoncourt in einem Konzert die Materialien vorstellen und die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion oder Realisation plausibel machen.
Wieder anders verhält es sich bei Turandot, mit dem im Grunde unbefriedigenden Schluss von Alfano, da die Wandlung der Turandot von der männermordenden Megäre zur liebenden Frau überhaupt unplausibel ist und folglich der feierliche Schluss unlogisch wirkt. So hat Berio nach Prüfung aller Skizzen und Notate von Puccini – die Alfano teilweise noch gar nicht zur Verfügung standen – einen ganz stillen Schluss realisiert. Und es erscheint vollkommen legitim, nach so langer Zeit plausiblere Möglichkeiten der Vollendung zu suchen und die historisch-kritische Behandlung eines Werks mitzubestimmen.Kann in die Planung der Salzburger Festspiele auch ihre eigene künstlerische Arbeit als Komponist oder Dirigent mit einfließen?

Nein, ganz sicher nicht. Dies habe ich mir selbst als Regel gestellt und von meinem Vorgänger Rolf Liebermann übernommen, nie eigene Werke im künstlerischen Verantwortungsbereich zu platzieren, weil man die Unbefangenheit verlieren würde, das Werk eines Kollegen abzulehnen.

(Spranger, Gersthofer)Konzert:

Di, 19.02.2002, 20:00 Uhr, Gewandhaus
Rundfunkkonzerte, Komponisten als Dirigenten
MDR SINFONIEORCHESTER
Peter Ruzicka, Dirigent
Jörg Widmann, Klarinette

Peter Ruzicka:
-Nachtstück (- aufgegebenes Werk -) für Orchester
-Erinnerung (Spuren für Klarinette und Orchester)
-Satyagraha

Gustav Mahler:
-Blumine, sinfonischer Satz
-Totenfeier, sinfonische Dichtung

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