Daniel Harding – ein junger Simon Rattle?

Das Gewandhausorchester unter Harding mit Werken von Strauss, Schönberg und Berg

Sein Debüt gab Daniel Harding 1994 beim City of Birmingham Orchestra, damals als Assistent des heute in der bundesdeutschen Hauptstadt für Furore sorgenden Sir Simon Rattle. Dieses biographische Detail scheint deshalb erwähnenswert, weil der junge Engländer während seiner zweijährigen Assistenzzeit bei einem Klangkörper, der erst durch die Zusammenarbeit mit seinem Chefdirigenten in das Licht des internationalen Interesses rückte, seinen Lehrer und Mentor offensichtlich genau studiert hat. Anders wäre die offenkundige Ähnlichkeit hinsichtlich Technik, Gestus und musikalischer Eindringlichkeit kaum zu erklären, mit der Daniel Harding nun bereits zum dritten Male das Leipziger Gewandhausorchester dirigierte.

Die dramaturgische Anlage des Programms war stringent und von innerer Bezugnahme der Komponisten zueinander. Strauss, Schönberg, Berg: Diese drei Namen stehen signifikant für eine Entwicklung, die sich vom spätromantischen Gestus des 19. Jahrhunderts zum musikalischen Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts vollzieht und in die Entstehung der sogenannten Zweiten Wiener Schule mündet. Ihre Mitbegründer Schönberg und Berg haben den Wandlungsprozess von der Tonalität bis zur Emanzipation der Dissonanz an ihrem eigenen Werk durchlebt und mitgestaltet.

Die 1909 entstandenen „Fünf Orchestersücke op. 16″ markieren eine solche Umbruchsphase im Werk Arnold Schönbergs. Hatte er bereits in den Liedern op. 14 und seinem ersten Streichquartett die musikalischen Gesetze konsonantischer Auflösung zunehmend ignoriert, so hob er diese in den kurzen sinfonischen Stücken durch jegliche Unterschlagung eines tonalen Zentrums auf und erklärte auch die traditionellen Formgesetze für obsolet. Vielmehr ginge es ihm um die Vermittlung von „Klang und Stimmung“, des weiteren seien sie „…absolut nicht symphonisch, direkt das Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß ein ununterbrochener Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen“ , wie Schönberg an Richard Strauss schrieb, der das Werk erstmals zur Aufführung bringen sollte, es aber aufgrund seiner „gewagten Experimente“ ablehnte, so daß die Uraufführung 1922 im Leipziger Gewandhaus unter Wilhelm Furtwängler stattfand.

Den Klang und die Stimmungen in all ihrer Ausdrucksvielfalt und Gegensätzlichkeit zur Geltung zu bringen, oblag und gelang dem Gewandhausorchester unter dem präzisen, im Vergleich zur uneinheitlichen Formsprache jedoch sehr einheitlichen Dirigat von Daniel Harding mit Intensität und Prägnanz. Man durchlebte die fünf konträren Stimmungen der Einzelstücke jeweils individuell. So zum Beispiel die eruptiven „Vorgefühle“ , das lyrisch-geheimnisvolle zweite Stück „Vergangenes“ oder „Farben“, dessen Verlauf sich in harmonischen, nicht motivischen, Veränderungen gestaltet und das nahezu unbeweglich erscheint, wodurch es wie ein Vorläufer der Klangflächenkompositionen Ligetis und Cerhas der 60er Jahre wirkt.

Spätromantisch treten hingegen die „Drei Bruchstücke aus der Oper Wozzeck“ von Alban Berg in Erscheinung. Auch weitestgehend atonal angelegt, sind sie jedoch von einer Expressivität, die auf Bergs Wurzeln im 19. Jh. schließen läßt. Harding verstand es einerseits, groß angelegte Crescendi aufzutürmen und mit geballter Kraft zu entladen, dabei jederzeit die vollkommene Kontrolle über den Klangapparat zu behalten. Andererseits offenbart der junge Dirigent, der sich bislang ausschließlich der Arbeit mit sinfonischen Klangkörpern widmete, auch seine fehlende Opernerfahrung, die ihn vielleicht zu einem subtileren Umgang mit dem Orchester bei Hinzutreten der Gesangssolistin veranlaßt hätte.

Der klare lyrische Sopran von Claudia Barainsky, die erst kürzlich einmal mehr durch ihre vielgelobte Darstellung der Martirio in Aribert Reimanns Oper „Bernarda Albas Haus“ in Berlin und München als versierte Interpretin für zeitgenössisches Repertoire auf sich aufmerksam machte, konnte sich nicht wesentlich vom orchestralen Apparat abheben, wenngleich sie durch ihre deutliche Deklamation der Rolle der entrückten Marie starken dramatischen Ausdruck verlieh. Hier hätte Harding das Orchester zurücknehmen müssen, um der Solistin den nötigen Raum zur stimmlichen Entfaltung zu bieten.

Versierter wußte er mit Richard Strauss‘ Tondichtung „Ein Heldenleben“ umzugehen, einem Stück, das- schon bei der Uraufführung 1988 wegen seiner scheinbar maßlosen Übersteigerung der Klangmittel als wilhelminisches Denkmal verschrien – ein Portrait sowohl des Komponisten als auch seines Zeitalters darstellen sollte, selbstverständlich nicht ohne eine gewisse Ironie für beide. Nach dem etwas übereifrigen Einsatz, unter dem die orchestrale Einheit zunächst litt, bewies der 25-jährige Pultstar im folgenden einmal mehr seine Souveränität. Präzise Einsätze, die Fähigkeit, großangelegte Klangvolumina einheitlich und stringent zu entwickeln, sowie eine differenzierte Nachzeichnung der facettenreichen Motivik Strauss‘ kennzeichnen seinen Stil, der hier tatsächlich an das große englische Vorbild Simon Rattle erinnerte.

Das pompöse Heldenmotiv in den glänzend disponierten Bläsern konnte man sich kaum strahlender und heroischer wünschen, die spitzen, flirrenden Stimmen der Widersacher kaum durchsichtiger und das Violinsolo (eine Offenbarung: Frank-Michael Erben mit innig-singendem Ton und klaren, unverfälschten Tempi) kaum besser exponiert und zugleich integriert in den Gesamtapparat. Besonders augenscheinlich trat Hardings Koordinationsfähigkeit im abschließenden musikalischen Chaos der Motive und Themen zu Tage, die er trotz ihrer dichten Verwebung individuell herauszumeißeln verstand. Harding begeisterte! Oder begeisterten lediglich die Werke, die er dirigierte? Welche Wirkung würde er, dessen dirigentischer Gestus trotz aller zu bewundernder Souveränität und Koordinationsfähigkeit sich an diesem Abend durchweg gleich ausnahm (große Geste, viel Lärm auch um wenig) mit weniger spektakulärem Repertoire erzielen, Stücken, deren Wirkung erst durch eigene künstlerische Impulse erzielt wird? Diese Frage bleibt – bei allem Respekt vor einer herausragenden Leistung – zurück und will in Zukunft beantwortet werden von einem, der einem großen Vorbild ernsthaft nacheifert.

Gewandhausorchester
Dirigent: Daniel Harding
Claudia Barainsky, Sopran

Arnold Schönberg: Fünf Orchesterstücke op. 16
Alban Berg: Drei Bruchstücke aus der Oper „Wozzeck“
Richard Strauss: Ein Heldenleben. Tondichtung op. 14

12. April 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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