Vom bedrohten Dasein der Stille

Der Klang der leeren Glocke: Zen und die japanische Flöte Shakuhachi im Gewandhaus

Das leere Podest, bedächtige Stille. Lichte Reihen versprechen einen ruhigen Einstieg in ein Thema voll meditativer Ungreifbarkeit. Zwei Vitrinen mit CDs und einer Bambusflöte stehen am Rand der Bühne. Mein Blick bleibt nur an dem Blasinstrument haften, denn ich bin voll und ganz eingestimmt auf alles, was ich nicht kenne. Mit einer Vielzahl von Bildern und Klängen versuche ich zwar, das Gebilde einzuordnen, aber es gelingt mir nicht. Auf einem Stuhl in der dritten Reihe nehme ich Platz, denn sicher ist, dass ich an diesem Abend keine klangliche Wucht zu befürchten habe.

Die japanische Musik ist wie japanisches Leben: Alles ist irgendwie darin enthalten und irgendwie ist alles darin extrem. Extreme Traditionalität in privat-religiösen Belangen, extreme Modernität im öffentlich-weltlichen Leben. Extremer Krach im Verkehr überfüllter Großstädte, extreme Stille in der Abgeschiedenheit weiter Naturgebiete. Und doch bleibt das faszinierendste Charakteristikum asiatischer Lebensart: die Fähigkeit zur Einbindung des entferntesten Neuen unter annähernder Beibehaltung des Alten. Japan ist ein Land, das in gleicher Weise durch seine Synthesen wie durch seine Synthetisierungen überrascht.

In die Reihe vor mir setzt sich ein japanisches Mädchen. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie in diesem Vortrag viel zum zweiten Mal hören wird. So auch bei den Senioren, die hinter mir Platz nehmen und sich dabei alle wie alte Bekannte begrüßen. In der hintersten Reihe entdecke ich schemenhaft einige leger dahängende Jugendliche. Meine freudige Überraschung wird vom Gedanken an eine Schulklasse verdrängt. Ich lese im Programm.

Bisher kam ich mit japanischer Musik nur wenig in Berührung, auch wenn mich der Klang der Shakuhachi eines Besseren belehren sollte. Es ist überraschend, wieviele Klänge das Ohr im Laufe der Zeit aufnimmt, ohne sich Rechenschaft abzulegen, was es eigentlich hört. Fasziniert merke ich mir zuallererst die wohltuend exotischen Namen: gagaku, die höfische Musik, bugaku, die Tanzmusik, , das japanische Musiktheater, shomyô, die buddhistischen Zeremonialgesänge. Schon jetzt erfahre ich einiges über das kompliziert herzustellende Resultat des innenlackierten Endes einer Bambuswurzel. Fünf Löcher, pentatonische Stimmung, Zwischentöne durch halbes Verdecken der Löcher und Kopfneigen. Fuke-Sekte, spiritueller Hintergrund, Koto, Shamisen, japanischer Jazz. Ich bin gespannt.

Etwas steif wirkt die Rede des Programmleiters, etwas unsicher die Gestik der Referentin. Mit einer Bemerkung über ihr kostbares, manchmal kränkelndes Instrument beginnen wellenhafte Bewegungen zwischen fantastischer, besinnlicher Musik und lesereichem Vortrag sowie einer Vielzahl von scherzhaften Bemerkungen in Karen Anke Brauns Ausführungen. Sie spricht nicht aufgeregt, aber auch nicht routiniert. Eine sonderbare Aura umgibt sie, denn worüber sie spricht, ist von bezaubernder Fremdheit. Ihre eigene Unsicherheit vor den großen wortlosen Weisheiten des Zen bestätigt dessen Forderung nach der gedankenlosen Erleuchtung. Wohl für jeden Referenten ist das ein unüberwindbares Dilemma.

Aber das tiefe Gefühl des Berührtwerdens beim ersten Klang der Flöte ist bei weitem überzeugender. Einzelne Phrasen werden in den Raum getragen, getrennt durch spannungsreiche Atempausen. Langsam sinkt man ein in die Musik, die sich aus dem Anfangsmotiv langsam fortspinnt. Die deutlich hörbare Luftströmung gibt dem Klang die elementare Empfindung des Atmens, in eins gemischt mit zarten, weiten Tönen. Das spürbare Geheimnis der künstlerischen Darbietung, im Japanischen hanna, die Blume, genannt, bewahrt den ursprünglichen meditativen Sinn. Fast.

Denn ein wohl eher geduldiges Interesse begleitet die Ausführungen über die Geschichte und die spirituellen Legenden der Fuke-Sekte, die das ursprünglich chinesische Instrument einführten. Je tiefer sich die Gedanken ziehen um die komuso, die ehemaligen Samurai-Krieger, die dann als Wandermönche umherzogen, und die komoso, die Mönche der Fuke, die sich ebenfalls das Wandern aneigneten, desto mehr kommt eine gewisse Unruhe im Raum auf. Auch Brauns Spiel bringt die wispernden Stimmen im Hintergrund nicht zum Verstummen, und so ist es wohl kaum begeisterte Interaktion, wenn jemand eine der feingesponnenen Melodien nachsummt.

Wie groß aber die tatsächliche Diskrepanz zwischen dem traditionellen Nimbus der Musik und seiner Aufnahme im Mendelssohn-Saal ist, wird in den folgenden Fragen klar, die wenig mit der Musik und der Philosophie als vielmehr mit ihrer direkten Repräsentation im Westen zu tun haben. Verwunderlich ist das nicht, denn wozu hieße es ?begegnung‘, wenn es nicht um vorsichtiges Herantasten ginge. Allerdings deuten vielleicht schon die kurzen Sätze über die Shakuhachi im Jazz und in der Neuen Musik an, dass die Annäherung zwischen fremden Kulturen auch anders verlagert sein kann.

Allein die Tatsache, dass der Konzertsaal für eine Musik, die nach Stille verlangt, selbst durch das einfache Phänomen des Klatschens unüberbrückbare Schwierigkeiten schafft, macht deutlich: So heilsam die Stille für die Unruhe des modernen Menschen sein mag, so fern ist ihm doch ihre Philosophie. Schon für die japanischen Wandermönche war die Stille nicht bei den Siedlungen der Menschen zu finden, und die Shakuhachi vertritt in der traditionellen Musik diesen Gedanken.

Stille führt ein bedrohtes Dasein, und doch, wenigstens ein wenig, ist sie da, in dem Moment, in dem ich das Gewandhaus verlasse.

begegnung im gewandhaus
Der Klang der leeren Glocke – Zen und die japanische Flöte Shakuhachi

Karen Anke Braun (Würzburg)

Montag, 15. April 2002, Mendelssohn-Saal

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