Große Erwartungen

Ein „Großes Concert“ um Kurt Masur mit Rachmaninow, Kantscheli und Tschaikowski

Es ist schon etwas besonderes, wenn Kurt Masur das Gewandhausorchester dirigiert. Das ist bereits zu spüren, wenn man in den Saal kommt. Die Menschen gehen irgendwie aufrechter, begutachten sich von oben bis unten, die Luft ist von schweren Parfümdüften erfüllt. Es knistert vor Spannung, bevor überhaupt der erste Ton gespielt wird. Die Erwartungen sind groß. Werden die Musiker ihnen gerecht?

Sergej Rachmaninow war zutiefst von Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“ beeindruckt; denn auch ihn beschäftigte die Frage nach Leben, Tod und Vergänglichkeit in großem Maße. Er vertonte das Gemälde und die mit ihm verbundenen Assoziationen, indem er gleichsam jede Farbnuance musikalisch nachzeichnete. Zu Beginn befindet man sich auf dem Wasser, die 5/8-Bewegung wiegt einen auf sanften Wellen. Die See ist relativ still. Aus den tiefen Streichern steigen immer lauter werdende, flächenartige Klänge auf. Es ist, als ob man in der Ferne am Horizont die Insel mit ihren hohen Steinen erahnt; doch noch bleibt der Blick auf der ruhigen See. Die liegenden Töne in den Holzbläsern und tiefen Streichern vermitteln Zuversicht, die Insel ist noch weit entfernt. Doch in Mollklängen und in nach Auflösung strebenden Harmonien steigert sich das zuvor gehörte Thema, drängt sich in den Vordergrund.

Das schwarze, kaum erkennbare Innere der Insel hat nicht nur auf dem Böcklin-Bild eine magische Anziehungskraft. Auch in der Musik ist ihm nicht zu entrinnen. Aufsteigende Passagen von Flöten und Blechbläsern, rasante Skalen der Harfe malen die Angst, die mit dem immer näher rückenden Tod verbunden sind. Man wird in dieses unsichtbare Innere der Insel regelrecht hineingesogen. Man erkennt nun den Beginn des Dies-irae-Gesanges. Musikalisch wird dann mit den lieblichen Gesängen der Geigen ein Blick zurück auf die ruhige See geworfen, bis die Musik sich zu einem schmerzlich-schönen Höhepunkt steigert. Warme, dichte und immer wieder leicht dissonante, nach Auflösung rufende Momente wirken wie die Sehnsucht nach Gnade. Die Musik windet sich hin und her wie ein gefangenes Tier und versucht erfolglos, sich dem Unabwendbaren zu verweigern. Von Pauken- und Beckenschlägen begleitet, erscheint die Dies-irae-Melodie nun ein weiteres Mal. Es ist der Tag des Zornes, des Letzten Gerichtes.

Der Eingang in das schwarze Innere der Insel ist nun passiert. Und schon kommt es nach dem großen Höhepunkt zum Absturz, der auf den tiefsten Tönen der Celli einen kurzen Ruhepunkt findet. Das Aufrichten fällt schwer, die Bitte um Gnade wird immer wieder durch das Dies irae abgelehnt. Der Fall in das Schwarze wird rasanter, die Musik beschleunigt sich und zeigt, daß es kein Zurück geben wird. Und immer wieder das Dies irae in den Klarinetten und in angstvoll gedämpften tremolierenden Geigen. Auch die himmlische Harfe glaubt nicht mehr an eine Erlösung. Allein die Oboe versucht mit liebevollen Tönen zu trösten, aber selbst der Posaunenchor kann keine Auflösung seiner leittönigen Harmonien bringen.

Der Tod muß endlos sein. Da kann man nur versuchen, sich von dem Inneren des Bildes zu lösen. Dies geschieht musikalisch, indem der Blick wieder auf die See gerichtet wird. Das Anfangsmotiv des Wassers ist wieder da, die ruhigen, wiegenden Wellen und hellen Töne lassen aufatmen. Man hat eine Vorstellung von dem Abgrund des Todes bekommen, ihn gehört und gefühlt. Doch nun darf der Blick wieder von diesem Abgrund abgewendet werden. Da ist sie wieder, die Weite des Meeres – doch nun ist das, was zu Beginn der Musik nur böse Vorahnung war, gleichzeitig auch warnende Erinnerung.

***

In Kantschelis Werk „And Farewell Goes Out Sighing…“ herrscht Endzeitstimmung. Das Werk wurde 1999 in New York unter Kurt Masur uraufgeführt. Den Violinpart spielte, wie auch an diesem Abend, Gidon Kremer. Bei der heutigen Aufführung kommt noch der Countertenor Jochen Kowalski dazu, der die von Kantscheli ausgesuchten Shakespeare-Zitate singt.

Nachdem im Saal Ruhe eingekehrt ist, beginnt Kurt Masur zu dirigieren. Doch was hört man? Atmen! Wer atmet? Die Zuschauer suchen im Orchester. Mit sorgfältig über die Saiten geführten Bogenstrichen geben die Kontrabässe tatsächlich das Atmen eines Menschen wieder. Spiegelglatte, unaufdringliche Töne des Solo-Geigers kommen dazu. Die männliche Altstimme antwortet im selben Stil. Stockende Momente und plötzliche, aber nicht aufdringliche akkordische Einwürfe verweigern den Zuhörern das Finden einer sanglichen Melodie. Wohin geht die Reise? Assoziationen an Prokofjew kommen in den Sinn, doch dies ist nicht der richtige Weg, diese Musik zu hören.

Vor den Worten „always new, always old“ vernimmt man einen unheimlich wirkenden Klangteppich. Ach, beginnt jetzt ein Tanz? Es klingt fast so, man wünscht es sich jedenfalls. Verwirrende Modulationen lassen einen aber von dieser Erwartung abkommen. Und doch: Die Musik hat etwas Kreiselndes. Zu den Worten „Love is dying“ steigen die Töne, werden repetiert, die Solovioline ergänzt das Gehörte mit flageolettartigen Klängen. Das Ganze ist mit kurzen Generalpausen durchsetzt, die zeitweilig mikrotonal verschobenen Töne des Countertenors sinken hinab. Mit Gewalt tritt ein an Orff erinnernder Orchesterschall hervor. Militärisch schreitend, von Becken und Paukenwirbeln begleitet und laut schreiend, gebärdet sich nun die Musik. Ist das der Tod der Liebe? Die vertonten Qualen werden fast unerträglich und dringen in die Seelen der Zuhörer.

Danach wirken die folgenden, so klaren, unaufdringlichen, nun aber verletzt wirkenden Töne des Geigers schon entlastend. Flöte und Harfe erklingen, und man möchte wieder Hoffnung schöpfen. Ständige Modulationen, militärische Momente, Ruhepunkte und auch liebevolle Klänge lassen alle Fragen offen. Letzte Atemzüge im Kontrabaß und nun auch in der Solovioline, zusammen mit immer höher steigenden Tönen, die im Nichts verschwinden, beschließen das Werk, und lassen das Publikum bewegt schweigen, bevor großer Applaus die Stille ablöst.

Nach den bereits gehörten, bedeutungsvollen Werken rundet Tschaikowskis sechste Sinfonie den Konzertabend würdevoll ab. Auch hier sind die Musiker voller Eifer bei der Sache. Die Streicher sind während des dritten Satzes so in ihr Spiel vertieft, daß mehr als einem von ihnen einige Bogenhaare abreißen. Stehende Ovationen zeigen am Ende, daß die Erwartungen des Publikums mehr als erfüllt worden sind.

Gewandhausorchester
Dirigent: Kurt Masur (Ehrendirigent des Gewandhausorchesters)

Gidon Kremer, Violine
Jochen Kowalski, Countertenor
Sergej Rachmaninow (1873 – 1943):
„Die Toteninsel“
Sinfonische Dichtung zum Gemälde von Arnold Böcklin op. 29

Gija Kantscheli (geb. 1935):
„And Farewell Goes Out Sighing…“
für Violine, Countertenor und Orchester

Peter Tschaikowski (1840 – 1893):
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 („Pathétique“)

18. April 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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