Verloren

Das Aleph-Ensemble für Neue Musik Berlin spielt im Kammermusiksaal der Musikhochschule

Mit dem ermunternden Schlag eines an der Tür stehenden Mannes auf die Schulter betrat ich den Kammermusiksaal. Er atmete bereits die Atmosphäre des etwa einstündigen Konzerterlebnisses – ein Hauch intellektueller Unwirklichkeit, abgerissener Schall an den Wänden, Verbindungskabel am Boden. Vereinzelt kamen Leute herein und nutzten eine der zahlreichen Chancen auf einen leeren Stuhl. Der eben noch Türstehende streifte durch die Reihen und verlieh der Stunde vertraulichen Glanz, indem er zuvorkommend Hinweise auf günstigere Sitzgelegenheiten verteilte. Verteilt im Raum waren auch vier Boxen. Den Text des Programmheftes überflog ich nur flüchtig, und doch verhalf er mir zu einer Ahnung. Ganz in Schwarz bewegten sich die drei Musiker auf die Bühne.

Scelsi hatte sein Streichtrio in der Zeit geschrieben, als er begann, den einzelnen Ton in seiner unmittelbaren Umgebung zu entfalten. Die Gestaltung der kleinsten Tonbewegungen ist ursprüngliches Element speziell der asiatischen Spielweisen. Und tatsächlich, in dem Spiel mit den kleinschrittigen Trillern, den verschiedenen Geschwindigkeiten der Vibrati und dem intensiven Aushören des Glissando fand ich verschiedentlich Andeutungen eines Sitarklanges oder einer mongolischen Geige. Doch das Fehlen jeglicher melodiöser Struktur machte mir zu schaffen, und ich verlor mich im Klang. Es schien zudem, dass hier vornehmlich ein langsames Antasten an Varianten stattfand, zumal Scelsi scheinbar in jedem der vier Sätze eine andere Spielart thematisierte. Es wirkte letztlich wie ein Spiel auf mich. Das Spiel mit den Möglichkeiten, die Manie der Moderne.

Zwei Gefühle stellten sich beim nächsten Stück von Augustin Maurs wieder bei mir ein: Intensität und Verlorensein. In verschiedenen Teilen, die in spontaner Korrespondenz eingeleitet oder beendet wurden, formte jeder der drei Instrumentalisten den gestaltungstechnischen Grundgehalt auf seine Weise aus. „Auf seine Weise“ heißt dabei nicht nur instrumentenspezifisch. Interessanterweise ließ der quasi-improvisatorische Ablauf der Musik das Individuum zentral werden, und anscheinend schimmerte hinter jedem Bogenstrich ein wenig von der jeweiligen Persönlichkeit hervor. Die seltsam klagende Beständigkeit der Bratsche, das offene, manchmal aggressive Violinspiel, die durchdachte und kraftvolle Cellostimme kehrten wieder in den Gesichtern. Und plötzlich fühlte ich mich ausgeschlossen: Ich beobachtete drei Menschen bei einer reizvollen Aktivität, doch es war, als taten sie das nicht im Geringsten für mich oder irgendjemanden im Raum. Der urkommunikative Gehalt der Kammermusik schien weg, überwunden, verloren, wie auch immer. An seiner Stelle, das Experiment im Selbst.

Durch dieses neuartige Empfinden angeregt erwartete ich Kommendes. Doch ich wurde enttäuscht, denn es wurden zehn Minuten Pause erbeten. Ernüchterung. Normalisierung. Warten. Ungeduld.

Pression. Ein Solowerk für Cello, in dem Lachenmann wie so oft die Überwindung traditioneller Hörgewohnheiten thematisiert, verbunden mit der Elementarisierung der Klangerzeugung. Kalte Worte für ein herzerfrischendes Erlebnis. Lachenmann benutzt nahezu jedes Geräusch, das ein Cello von sich geben kann. Versuchte ich am Anfang noch, den Cellisten dabei zu beobachten und seine eingehende Betastung dieses Klangkörpers mitzuempfinden, so gewann ich nach und nach ein Lächeln über diese kunstvoll geformte Liebelei. Das brachte mich dazu, die Geräusche anders anzugehen. Ich vergaß die eigentliche Schallquelle und fand dabei Bezüge zu den verschiedensten Geräuschproduzenten. Plötzlich hörte ich eine Menge wispern, ein Baum wurde abgesägt, eine Schiffssirene ertönte und sogar ein Wasserkocher ließ sich erkennen, wie eine Spiegelung der alltäglich gehörten Dinge nicht als einfache Ansammlung, sondern dramaturgisch ausgesetzt. Eine assoziative Spielerei, sicherlich, aber hinter all den vielen Erklärungen zu Form und Gehalt ist das Stück wohl eigentlich ein wunderschönes Beispiel für Anregung zum Audiophilen, zur elemantaren Freude am akustischen Ereignis.

Derart sensibilisiert, isoliert und innerlich mobilisiert hörte ich nun die letzte Komposition. Doch ich kam nicht zum Hören, denn ich wurde in das Klanggebilde hineingerissen. Die konzertierenden Künstler verloren immer mehr an Kontur vor einer wahren Walze an Schall. Mit geschlossenen Augen folgte ich der Konstruktion einer sich andauernd wandelnden, aber ebenso beständig stehenden Wand aus Tönen. Sämtliche Versuche zu abstrahieren oder zu reflektieren scheiterten angesichts der alles verschluckenden Wahrnehmungswelle. Jeden Sinn für Raum und Zeit einbüßend brachte mich nur manchmal der Anschein einer Violin- oder Cellostimme heraus und schaffte mir eine Atempause. Eine innere Abwehrreaktion zwang mich schließlich, mein Selbst in diesem unüberschaubaren Raum wiederzufinden, und so bewegte ich mich zwischen zeitloser Wiedergeburt unzähliger Klänge aus allen Richtungen und hastiger geistiger Verarbeitung hin und her.

Die Unwirklichkeit, die mich in diesen Minuten erfasst hatte, ließ mich nur langsam das Ende des Stückes begreifen. Meine Empfindung dieser Musikwelt war so voll von immateriellen Bezügen gewesen, war so wenig verknüpft mit irgendeiner der anwesenden Personen geschweige denn der Künstler, dass ich kaum einen Grund verspürte zu klatschen oder den jungen dirigierenden Komponisten Diego Uzal bewundernd anzuschauen (was nichts an meiner tatsächlichen Hochschätzung ändert). Denn sein Werk abstrahiert völlig von allen konzertanten Gegebenheiten, so dass der Konzertsaal kaum zur Ausführung passen will. Zweifellos ist diese Musik vollgültig als Musik des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen. Doch die Frage ist: Wie sieht ein Konzertsaal des 21. Jahrhunderts aus?

Aleph-Ensemble für Neue Musik Berlin

Birte Päplow – Violine
Eva Lüdenbach – Violine
Katja Plagens – Viola
Philipp Nickel – Viola
Augustin Maurs – Violoncello

Giacinto Scelsi – Streichtrio (1958)
Augustin Maurs – Form I für Streichtrio (2002)
Helmut Lachenmann – Pression für einen Cellisten (1969)
Diego Uzal – Zwitscher-Maschine für Violine, 2 Violen, Violoncello, Tonband und Live-Elektronik (2002)

Donnerstag, 18. April 2002, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, Kammermusiksaal

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