Alexander Galin: „Casting in Kursk”, Premiere (Ian Sober)

20.04.2002 Schauspiel Leipzig, Floßplatz (Interim)

Alexander Galin: ?Casting in Kursk“(Premiere)
Komödie in zwei Teilen
Aus dem Russischen von Susanne Rödel

Regie: Wolfgang Engel
Bühne: Horst Vogelgesang
Kostüme: Ulrike Schulze
Choreografische Mitarbeit: Werner Stiefel
Musikalische Einrichtung: Jens-Uwe Günther
Dramaturgie: Carmen Wolfram

Es spielen:

Nina Karnaúchowa: Julia Berke
Warwara Wólkowa: Barbara Trommer
Katja Wólkowa: Lilli Jung
Lisa Wólkowa: Anja Schneider
Tamara Schmidt: Susanne Böwe
Olga Puchowa: Jana Bauke
Albert: Michael Schrodt
Tezudsin Aoki: Michael Chu/Yong-Hyun Yu
Boris Karnaúchow: Andreas Keller
Wassili Schmidt: Frank Apitz
Viktor Puchow: Günter Schoßböck


Kursker Magnet-Anomalie

Die Euphemismen der westlichen Welt sind anderer Natur als diejenigen, die im Sozialismus üblich waren. Da werden laut Annonce Frauen gesucht, die Gelegenheit erhalten sollen, „ihr Talent und ihre Schönheit anzuwenden“. Wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, interpretiert man das, was als Suche nach Stripperinnen für Nachtclubs gemeint war, schon mal als Talentwettbewerb für künstlerisches Volksschaffen. Das Foyer des Kinos „Kosmos“ platzt aus den Nähten, und zwei Drittel der Frauen, die bis in den ungeheizten Saal vordringen konnten, sind eher das Gegenteil dessen, was der Japaner Tezudsin Aoki nach Singapur exportieren will.

Die sind nämlich schon zu alt und zu allem Übel noch verheiratet, wie aus ihren Pässen hervorgeht. Albert, dolmetschender Student und rechte Hand von Aoki-San, soll den mehr oder minder aufgetakelten Bewerberinnen denn auch begreiflich machen, daß sie unerwünscht sind. Er hat aber die Rechnung ohne deren von Hoffnungslosigkeit und Geldmangel angestachelte Widerspenstigkeit gemacht. Sein Brötchengeber findet sich schließlich um des lieben Friedens Willen und mit gezwungenem Lächeln bereit, die Talentschau über sich ergehen zu lassen. Und die ist wahrlich sehenswert: Da gibt es eine Matka vom Güterbahnhof Nr. 2, Warwara Wólkowa, die eigentlich wegen ihrer Töchter Lisa und Katja da ist und das „Lied der Geologen“ singt, wie damals im Kremlpalast. Oder Nina Karnaúchowa, überspannte Dozentin für Ästhetik (jetzt in der Damenkonfektionsabteilung), die mit hilfloser Schlangentanz-Erotik Lisa zu der Bemerkung „da kriegt man’s Kotzen“ veranlaßt. Tamara Schmidt begleitet sie alle auf dem Akkordeon und hat ihr letztes Geld, sehr zu ihrem Nachteil, in eine Veränderung ihres „Imädsch“ gesteckt. Die schöne Zauberkünstlerin Olga Puchowa zieht die japanische Flagge aus dem Hut und was dergleichen hanebüchene Tricks mehr sind. Sie hat sogar einen riesigen Kasten zum Zersägen von Männern mitgebracht, was auf wenig Gegenliebe bei Tezudsin Aoki stößt, denn schließlich seien ja Frauen dafür da, den Männern Freude zu bereiten. Genau das tun denn auch Lisa und Katja bei ihrem Auftritt; daß sie sich völlig entblättern, wird aber von den empörten Konkurrentinnen verhindert.

Fast wäre es eine Deutschlandpremiere geworden, was Wolfgang Engel da auf die Bühne des Interim am Floßplatz gebracht hat, aber Konstanze Lauterbach ist ihm mit Alexander Galins Stück in Berlin eine Woche zuvorgekommen. Bevor man sich auf der (nun vielen Zuschauern Platz bietenden) Holzbestuhlung niederläßt, wird man draußen von drei vorzüglichen Musikern mit russischer Musik eingestimmt. Die Inszenierung ist farbenfreudig und temperamentvoll, lebt auch von den guten Schauspielerleistungen, neigt nur manchmal ? der „russischen Sähle“ wegen ? zu lautstarken Übertreibungen. Der Schwebezustand zwischen alt und neu, in dem sich die russische Gesellschaft zur Zeit befindet, treibt seltsame Blüten. Im kalten Kursker Kino „Kosmos“ gibt es also genug Staffage, die den Wechsel der Zeiten dokumentiert: umgestürzte Marx- und Stalinbüsten unter der Bühne, alte Losungen, die hinter der Bar hervorlugen. In der allgemeinen Unordnung zwischen hochgestellten Stühlen und Barhockern finden sich auch eine alte Arztwaage und ein Kühlschrank.

Der Japaner Aoki, der nicht einmal weiß, wer Lomonossow ist – und der ist ja bekanntlich ein paar tausend Kilometer zu Fuß gelaufen, nur um ein Buch zu lesen – muß sich sehr seltsam fühlen zwischen all den aufgeregten Gestalten, die ihm klarzumachen suchen, warum die Erfüllung ihrer Zukunft in Singapur zu sein hat. Daß eine von ihnen, nämlich Nina Karnaúchowa, zusammen mit ihrem hilflosen Mann vier Hochschulabschlüsse aufzuweisen hat, daß sie sich für dieses Casting mit japanischer Kultur auseinandergesetzt hat und jetzt aber „dumpf“ zu sein wünscht, wie all die anderen Leute, wird ihm gar nicht erst übersetzt von Albert … Oder daß Lisa und Katja von ihrer Tante zur Prostitution gezwungen werden und in „exklusiven Nightshows“ daher eine vergleichsweise goldene Zukunft erblicken. Eine zentrale Rolle sowohl beim Anstacheln als auch Beruhigen überkochender Emotionen spielt ihre Mutter Warwara Wólkowa, die den billigen Fusel nur so unterm Mantel vorzieht und immer aller Welt sto gram anbietet. In ihrer Lebensweisheit zwischen schamlosem Nach-dem-Mund-Reden einerseits und knallhartem Durchsetzungsvermögen andererseits wird sie sehr überzeugend von Barbara Trommer dargestellt.

Ihrer Fähigkeit zu schlichten wird vor allem im zweiten Teil des Stücks, in dem die Ehemänner auftreten, einiges abverlangt. Auch hier haben wir es mit Prototypen zu tun: der skrupellose, obercoole Unternehmer Viktor Puchow, der lächerliche, verbitterte Intellektuelle Boris Karnaúchow (Spezialist für die Geschichte der Hinrichtungen, im wesentlichen also die Geschichte Rußlands), der brutale Säufer Wassili Schmidt („Wir sind vier Brüder, und keiner von uns ist jemals im Knast gewesen“). Jetzt werden die ehelichen Probleme nacheinander abgehandelt, die Schicksale werden härter beleuchtet, aber die Handlungslinie ist weniger zwingend als im ersten Teil des Stücks. Vielleicht ist es auch so, daß man sich insgesamt eher in seinen klischeehaften Vorstellungen von Rußland bestätigt sieht und – wenigstens als Ostdeutscher – nicht eigentlich zu neuen Einsichten gelangt. Aber ein sehr amüsanter, lebendiger Abend ist es allemal.

(Ian Sober)

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