Zerbrechliche Schönheit und kraftvoll-musikantische Spielfreude

Das Gewandhausorchester unter Sir Roger Norrington mit Werken von Vaughan Williams und Brahms im Großen Saal

Wenn zum „Grossen Concert“ des Gewandhausorchesters wieder einmal Brahms‘ Erste auf dem Programm steht, dann lässt das nicht zwangsläufig einen der inspiriertesten und denkwürdigsten Abende der Konzertsaison erwarten. Doch mit einem Sir Roger Norrington am Pult, der außerdem eine Partitur „seines“ Ralph Vaughan Williams mitgebracht hat, verspricht dies Spannung pur und große Musik, Überraschendes nicht ausgeschlossen. Hat der international gefeierte englische Originalklangspezialist doch in den letzten Jahren am selben Ort bereits wiederholt vorgeführt, was er beispielsweise zu Beethoven, Mendelssohn oder Schumann alles zu sagen hat. Und den Komponisten war das Non-vibrato-Spiel und die klangredend-schlanken Bögen auffallend gut bekommen. Diesmal soll also der „alte“ Brahms einer Authentizitätskur unterzogen werden.

Doch immer schön der Reihe nach, denn zunächst verzaubern Norrington und das jedem Fingerzeig folgende Gewandhausorchester das Publikum mit Ralph Vaughan Williams‘ 5. Sinfonie in D- Dur. Entstanden zwischen 1938 und 1943 entfaltet darin der „extraordinary ordinary man“ der englischen Sinfonik eine verklärende Vision vom ewigen Bestand der Ordnung, des Schönen und des Natürlichen im Universum. Vaughan Williams setzt dem schrecklichen Treiben seiner Zeit, das viele seiner Künstlerkollegen für das Ende der abendländischen Kultur hielten und mit radikaler, teilweise desillusionierter Sprache darauf reagierten, eine „Sinfonie der himmlischen Stadt“ entgegen, in der er den Glauben an das Ewige und Gute leise und sanft in die Welt und gen Himmel haucht. Als wolle er uns gleichsam erinnern, dass das, was sich vor unseren Augen abspielt, nur einen Teil der Realität darstellt – und sei er noch so furchtbar.

Norrington zeichnet diese Botschaft als musikalisches Aquarell von unwirklich schwebender Schönheit. Dabei lesen ihm die bestens präparierten Musiker um Konzertmeister Sebastian Breuninger jeden Wunsch von den Augen ab, um die hymnenartigen Themen wunderbar klar und feinnervig zu verfolgen und sie zu einem zarten und unaufdringlichen Tongewebe zu verflechten. Mit vibratoarmem bis vibratolosem Spiel (leider nicht immer ganz konsequent bis in die letzten Pulte verwirklicht) machen sie Satz für Satz zum Ereignis kontemplativer Entrückung.

Nun gelingt es selten, solch zerbrechliche Schönheit entstehen zu lassen, wenn man sie direkt anstrebt, sie sozusagen erzwingen möchte. Doch die sparsame Zeichengebung des Dirigenten und die uneitle, schlanke und sich an den anrührenden melodischen Linien erfreuende Musizierweise des Orchesters finden wie von selbst zu ätherischer Einfachheit. Zumindest, je länger die Sinfonie andauert. Während im ersten Satz noch nicht jeder der Akteure mit dieser völligen Gelöstheit am Werke zu sein scheint und im Scherzo das fast virtuelle, an Vaughan Williams‘ Lehrer Ravel erinnernde Flirren der Streicher noch selbstverständlicher daherkommen könnte, gerät die „Romanza“ zum vielleicht berückendsten Moment des Abends. Die Welt scheint sich für einen Augenblick nicht weiterzudrehen, wenn das Englischhorn mit seinem Solo diesen dritten Satz einleitet, den Breuningers Geigensolo, begleitet von den wunderbaren Hörnern, gleich einem innigen Gebet beschließt. In der finalen „Passacaglia“wird es dann wieder irdischer. Die Gewandhäusler haben nun sichtlich Freude an der ohne viele dramaturgische Höhepunkte oder gar orchestrale Eruptionen auskommenden Partitur, und von den – jetzt nicht mehr con sordino spielenden – wunderbar homogenen Ersten Geigen über die solistisch und als Gruppe fantastischen Holzbläser bis hin zum samtig weichen Blech sorgen alle dafür, dass das Publikum diese Freude teilt. Der alten kontrapunktischen Form tanzend und in gelassener Heiterkeit folgend, entwickelt sich ein Rundgesang zwischen den verschiedenen Gruppen des Orchesters, der irgendwann einfach entschwindet und Musiker wie Zuhörer geläutert in die Pause entlässt.

Norrington wäre nicht Norrington, wenn er danach Brahms so dirigierte, wie wir ihn bereits kennen. Und so entwickelt er quasi die Antithese zu Kurt Masurs letztjährigem Besuch. Er wählt ein vergleichsweise zügiges Tempo, das Orchester behält die klare, aber nie zu magere Spielweise des ersten Teils bei, vervollkommnet sie jetzt sogar und lässt nun überhaupt keine Wünsche offen. Am Originalklang orientiertes Musizieren bedeutet eben nicht nur sprödes Weglassen des Vibratos oder das trockene Kürzen langer Noten, sondern zuerst und vor allem die Wiederentdeckung der Gestaltungsmöglichkeiten, die zum Beispiel ein Geigenbogen bietet. Und hier übertreffen sich die Gewandhausmusiker selbst. Kraftvoll-musikantische Spielfreude ohne falsche Zurückhaltung paart sich mit größter Disziplin und Genauigkeit. Der drahtig-durchsichtige und dennoch volle Gesamtklang dringt bis unter die Haut. Und was macht Sir Roger? Er spürt den feinsten Linien und Motiven nach, fördert gar thematische Fetzen in der Paukenstimme zu Tage, erlaubt sich die eine oder andere Schalkhaftigkeit, verliert aber nie den Zusammenhang aus dem Auge. In der Durchführung reißt er dem Riesen, den Brahms stetig hinter sich marschieren hörte, die Maske vom Gesicht, indem er die innewohnenden Klüfte und Spannungen offenlegt und die musikhistorische Lücke zu Beethoven so klein macht, wie es Brahms eben erlaubt. Das „Andante sostenuto“ lässt er in betörender Andacht Raum gewinnen, ohne es mit zu viel Emphase zu erdrücken. Erneut großartig: Konzertmeister Breuninger, der als kongenialer Partner das Ideal Norringtons von der Schönheit des Reinen und Natürlichen nochmals exemplarisch in Töne fasst. Im graziösen „Allegretto“ greifen die kleinen Figuren und Umspielungen bis aufs Feinste ineinander und zelebrieren Idylle und Intimität, bevor sich der mächtige Finalsatz mit seinem choralartigen Streicherthema triumphal Bahn bricht. Die Bläser jubilieren, die Streicher schwelgen, aber ohne, dass einem davon übel wird. Selten hat man diese ach so vertraute Musik so aus einem Guss und in einem Atem gehört.

Gewandhausorchester
Dirigent: Sir Roger Norrington

Ralph Vaughan Williams: 5. Sinfonie D-Dur
Johannes Brahms: 1. Sinfonie c-Moll op. 69

25.4.2002, Gewandhaus, Großer Saal

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