…die Mütze vom Kopf geblasen

Das Ostwind-Spezial im Gewandhaus

Die Nato, das Polnische Institut und das Gewandhaus zeichneten für die Gemeinschaftsveranstaltung „Ostwind-Spezial“ verantwortlich; und der Wind pfiff ordentlich durch den kleinen Saal des Gewandhauses! Wahrlich ungewohnte Musik wurde an interessierte Hörer herangetragen. Selbst Liebhabern, die mit östlich-baltischer Musiktradition vertraut sind, dürfte dieser Abend ein ganz besonderes Erlebnis gewesen sein.

Quasi aus dem Nichts verwandelte das polnische Ensemble Orkiestra pod wezwaniem Swietego Mikolaja den kleinen Saal in einen brodelnden Kessel, in dem ein „folkisches“ Süppchen gekocht wurde. Die Zutaten solch delikater musikalischer Speisen sind einfach, schmackhaft und gut verdaulich und dennoch äußerst selten in der musikalischen Landschaft zu finden. Gemeinhin gilt zwar, daß viele Köche die Mahlzeit verderben; in diesem Falle jedoch konnte davon keine Rede sein. Vielmehr beließen es die Köche und Köchinnen bei archaischer Kochkunst und servierten dem Publikum ein deftiges Mahl, in dem man, wenn man wollte, auch feinere Nuancen abschmecken konnte. Grelle Frauenstimmen sangen zu folkloristischen Weisen; Geigen, ein Violoncello, Flöten, Mandoline, Gitarre und Trommeln begleiteten. Mitunter wurde auf ein ausgefallenes Instrumentarium zurückgegriffen, um den narrativen Gesangstil des Sängers und der Sängerin – die beide ausschauten, als seien sie einem alten polnischen Märchen entsprungen -zu untermalen. In Zeiten des virtuellen Cyberspace wirken derartige musikalische Darbietungen sowohl befriedend als auch aufrüttelnd.

Ein völlig anderes Flair verbreitete sich beim anschließenden Auftritt des King Naat Veliov & The Original Kocani Orkestar, welches aus dem fernen Mazedonien angereist war. Etwas schüchtern zwar formierte sich das Bläserensemble – augenscheinlich erschien ihnen die Konzertsituation vor sitzendem Auditorium befremdlich – doch schon in der nächsten Minute wurde der Konzertbesucher unweigerlich Zeuge eines wundersamen Schauspiels. Die Band blies einem sprichwörtlich die Mütze vom Kopf. In einem Fortefortissimo brachte man die Mauern von Jericho erneut zum Einsturz. Das verschreckte Publikum sammelte sich dann allmählich und mußte sich dennoch wundern, wie der Familienclan einer Roma-Gemeinde seine monströse Dynamik über zwei volle Stunden halten konnte, ohne an Kopfüberdruck und wundgespielten Lippen zu leiden. Locker und unangestrengt spielten sich die Musiker durch Taktarten und Tempi jenseits von gut und böse und wunderten sich darüber, wie das Leipziger Publikum da noch sitzen bleiben konnte. Offensichtlich spielt die Band sonst nur auf wilden Balkanhochzeiten und ist andere Mentalitäten gewohnt, als die eines deutschen Konzerthaus-Besuchers.

Der Funke sprang schlußendlich trotzdem über; stehende Ovationen und wild-wippende Körper spornten die Musiker zu Höchstleistungen an. Die irrwitzige Mixtur baltischer Folklore mit Millitär-, Samba- und Gypsymusik, kombiniert mit orientalischer Tanz- und teuflischer Unterhaltungsmusik, hinterließ bei einigen ein unverständiges Kopfschütteln, bei anderen einen apathischen Gesichtsausdruck und bei manchen ein rätselhaftes Mischgefühl aus latenter Angst und grenzenloser Freude.

King Naat Veliov & The Original Kocani Orkestar (Mazedonien)
Special guest: Orkiestra pod wezwaniem Swietego Mikolaja (Polen)

Gewandhaus, Mendelssohn-Saal, 09.05.2002

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