„Ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.“

Imre Kertesz über Freiheit und Schicksal

Imre Kertesz:
geboren 1929 in Budapest
1944 Deportierung nach Auschwitz
1945 Befreiung in Buchenwald
seit 1953 als freier Schriftsteller und Übersetzer in Budapest lebend

Die erste Liebe steht auf der Treppe eines großen Budapester Wohnhauses und schmollt, mag gerade jetzt nicht mit ihm reden und starrt zickig vor sich hin. Er schämt sich, hatte er doch vor Augenblicken einem anderen Mädchen heftige Empfindungen entgegengebracht, allerdings weniger ihr als vielmehr ihren Argumenten und Gefühlsausbrüchen: Wenn es keinen wahren Unterschied zwischen den Juden und den Anderen gibt, dann hätte alles keinen Sinn. Nachgegraben hat sie sogar in Büchern, um herauszufinden, wofür sie gehasst wird und glaubhafte Unterschiede gefunden. Genau dieses, nämlich das Herumstöbern und Nachdenken unterscheide sie von den Anderen, nicht einfach nur die Tatsache, dass sie Jüdin ist. Der Unterschied wäre wesentlich, meinte sie, und sie bräuchte sich nur noch entscheiden, darüber stolz zu sein oder sich zu schämen.

Der junge György empfand seinerseits Scham, er wusste nicht recht aus welchem Grunde, ihm war unbehaglich ob einer solchen Entscheidung. Für ihn wäre die Sache einfacher. Den Unterschied könnte man nicht einfach selbst bestimmen, dazu ist der gelbe Stern doch da, sagte er, außerdem würde nicht sie, sondern die Idee „Jude“ gehasst werden. Das Mädchen begann sogar zu weinen. Sie kann die Sache für sich nicht entscheiden, György allerdings will sie nicht entscheiden, noch nicht. Das andere Mädchen sieht den aufgewühlten Freund, später wird sie sich mit ihm versöhnen, mit einem Kuss, ganz normal.

Der autobiographische Roman von Imre Kertesz, den man als „Entmystifizierung von Auschwitz“ bezeichnet hat, wurde vom ungarischen Staatsverlag mit unzulänglichen Begründungen abgelehnt und erschien, wenig beachtet, erst 1975. In Deutschland brachte eine zweite Übersetzung (Christiane Viragh) in den späten Neunzigern den Erfolg. Kertesz wollte mit diesem Roman aus der Trilogie der Schicksallosigkeit (Roman eines Schicksallosen, Fiasko, Kaddisch für ein ungeborenes Kind) keineswegs eine erlösende Anklage der Holocaust-Ereignisse liefern (wie wir es vielleicht gewöhnt sind). Und er konnte es auch nicht. Deswegen und nicht zuletzt aufgrund der dargestellten konsequent kindlichen Perspektive, nämlich der des wertfreien und (erstaunlicherweise) nahezu angstfreien Beobachtens, werden wir als Leser mit unserer anschließenden Empörung und Beklemmung gänzlich alleingelassen.

Györgys Welt ist die staubige schrullige Welt der Budapester Juden mit deren zwanghafter Harmoniesucht, der großen Bürgerwohnungen und der gelegentlichen lästigen Fliegeralarme in der Nacht. Der Fünfzehnjährige lebt wie die meisten seiner Verwandten und Bekannten sowohl mit schleichenden Entwicklungen, die das alltägliche Leben der Juden in Budapest 1944 restringieren, als auch mit abrupten Veränderungen, wie der Einweisung des Vaters zum Arbeitsdienst oder seiner eigenen als Hilfsarbeiter in eine Fabrik. Doch die Arbeit ist nicht wirklich schwierig, sogar einige Privilegien lassen sich abtrotzen aus der Tatsache, dass er als „kriegswichtiger“ Hilfsarbeiter Sperrgebiete übertreten darf, und mit den anderen Jungen ist es gewöhnlich recht lustig.

Mit eben diesem jugendlichem Übermut und Hintersinn vertreiben sich die Jungen dann auch die unendlichen Stunden in einem Warteraum, als sie eines Morgens nach polizeilicher Anweisung den Weg zur Arbeit unterbrechen müssen. Ohne jegliche Vorwarnung oder Information der Beamten an die Jungen oder ihre Familie beginnt nun die Reise zuerst in eine Sammelunterkunft, dann nach Deutschland. Warum gehen sie denn alle mit? „Gehen müssen wir ja, oder?“, antwortet ein Mann im Sammellager, gefragt, ob er sich ebenfalls für die Abreise entschieden hätte. Die folgenden Monate verbringt der Junge in verschiedenen Lagern (Auschwitz, Zeitz), wird krankheitsbedingt nach Buchenwald gebracht und überlebt, versehentlich.

Ankunft und Leben im Lager folgen einer gewissen Logik, der sich György schlecht entziehen kann. Sie zu erkennen und bestätigt zu wissen, ist eine einfache Funktion des normalen Lebens, allerdings auch für den Leser, der beginnt, in den dunkelsten Farben zu denken. Er folgt dieser Logik ohne Weiteres, er folgt der Absurdität der Existenz eines KZ-Häftlings und verliert dabei zwingend seine Unschuld. Denn ein distanzierter und staunender Beobachter ist Kertesz, der Stil ist unprätentiös und sachlich klar, wie das Beschriebene. „Ich habe der Arbeit des Arztes auch bald folgen können. Kam ein alter Mann – ganz klar: auf die andere Seite. Ein jüngerer – hier herüber, zu uns. Dann wieder ein anderer, mit Bauch, soviel er sich auch streckte und reckte: vergeblich – doch nein, der Arzt schickte ihn dennoch auf unsere Seite, da war ich nicht ganz zufrieden, denn ich meinerseits fand ihn eher etwas betagt. Ich musste auch feststellen, dass die Männer zum größten Teil sehr stoppelbärtig waren und nicht gerade einen guten Eindruck machten. Und so, mit den Augen des Arztes, konnte ich nicht umhin festzustellen, wie viele von ihnen alt oder sonstwie unbrauchbar waren. Einer zu mager, der andere zu dick, und einen, der nach Art eines schnüffelnden Hasen fortwährend Mund und Nase verzog, befand ich als nervenkrank – obwohl auch er pflichtbewusst und bereitwillig lächelte, als er mit eifrigen und merkwürdig watschelnden Schritten hinübereilte, zu den Untauglichen.“

Der Lageralltag und die häufigen Transporte in andere Lager erfordern das Aneignen spezieller Kenntnisse. Es ist anstrengend, die ständigen Wechsel zu ertragen, die damit verbundenen Unsicherheiten, Wartezeiten, denn Vernichtungs-, Arbeits- und Konzentrationslager unterscheiden sich durchaus. „Mag sein, es war mein Fehler, dass ich es nicht wusste, aber ich war nie so vorausblickend gewesen, mich nach den Buchenwalder Gebräuchen, nach der Ordnung, der Verfahrensweise zu erkundigen, nämlich mit einem Wort, wie sie es hier eigentlich machten: mit Gas, wie in Auschwitz, oder vielleicht mit Hilfe von Medikamenten, wovon ich dort ebenfalls gehört hatte; vielleicht mit der Kugel, vielleicht anderswie, mit einer der tausenderlei Methoden, für die meine Kenntnisse nicht ausreichten – ich wusste es einfach nicht. Auf jeden Fall hoffte ich, es würde nicht weh tun, und es mutet vielleicht seltsam an, aber diese Hoffnung war genauso echt, erfüllte mich genauso wie andere, wirklichere Hoffnungen – um es so zu sagen -, die man an die Zukunft knüpft.“

„Ich muss einsehen, dass ich gewisse Dinge nie zu erklären vermag, auf keine Weise, nicht wenn ich sie von meiner Erwartung, von den Regeln, der Vernunft – im Ganzen also vom Leben und der allgemeinen Ordnung her betrachte, soweit ich sie kenne, zumindest. So habe ich zum Beispiel, nachdem man mich wieder vom Karren abgeladen hatte, irgendwohin auf den Boden, überhaupt nicht begriffen, was ich noch mit Rasiermesser und Haarschneidemaschine zu tun hatte. Jener bis zum Ersticken vollgepfropfte und auf den ersten Blick einem Duschbad täuschend ähnliche Raum, auf dessen glitschigem Holzrost man mich ablegte, zwischen unzählige Füße, geschwürige Waden und Schienbeine, die da herumwühlten und sich gegen mich pressten, entsprach im großen und ganzen schon eher meiner Erwartung. Zuletzt ging mir sogar noch flüchtig durch den Kopf: na also, demnach ist, wie es scheint, auch hier der Auschwitzer Gebrauch üblich.“ – „Auch in Buchenwald gibt es ein Krematorium, versteht sich, aber insgesamt nur eines, denn das ist hier nicht der Zweck, nicht das Wesen der Sache, nicht Seele und Sinn des Ganzen – wenn ich so sagen darf -, sondern es werden nur solche verbrannt, die im Lager verscheiden, unter den gewöhnlichen Umständen des Lagerlebens sozusagen. … ich kann sagen, auch ich habe Buchenwald bald liebgewonnen.“

Nach der Befreiung aus Buchenwald und der Rückkehr nach Budapest registriert György ungehalten das seiner Meinung nach überzogene Interesse, welches ihm als Überlebendem von Auschwitz entgegengebracht wird, und reagiert trotzig auf die neugierigen und ungehörigen Fragen. Wie er denn das Leiden ertragen hätte, ob er viel Schreckliches erlebt hätte, wie er denn einfach so weiterleben könne? Zunächst sind wir doch aber alle diese Schritte durch diesen Krieg gegangen, meint er, und es käme darauf an, was man unter „schrecklich“ verstehe und sehr viel Interessantes könne er nicht erzählen. Ob man sich das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen hätte? Das käme nun wieder darauf an. Jeder könnte es sich vorstellen, wie er wolle, er seinerseits könne sich jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne er bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht. Und überhaupt hätte er von Greueln nichts bemerkt, denn alle mussten in den schweren Zeiten einen Schritt nach dem anderen gehen, einen kleineren oder einen größeren, und alle sind die Schritte auch gegangen. Es ist ja nicht so einfach, dass die Dinge „kamen“, überlegt György, nur im Nachhinein, von hinten her gesehen, wirke alles so fertig, so abgeschlossen, unveränderlich endgültig und so ungeheuer schnell.

Schon damals sei er die Schritte gegangen, schon damals, als das Mädchen weinte; es scheint, als wären sein zukünftiges Leben und die zu lösenden Fragen schon irgendwo vorbereitet gewesen. Nichts bedeute es, ein Jude zu sein, für ihn nichts und ursprünglich nichts, solange die Schritte nicht einsetzen. Er habe ein gegebenes Schicksal durchlebt, es war nicht seines, aber er habe es durchlebt. Damals, in der Budapester Wohnung, hatte ihm das Mädchen die einzig erlaubte Freiheit innerhalb unfreier Umstände offenbart: Annahme oder Verweigerung. „Denn Freiheit ist nicht möglich, wenn es ein Schicksal (wie dieses) gibt.“ Warum also dieser Unwille, einzusehen, dass „wir selber das Schicksal sind“, warum die dumme Bitternis ablehnen, nicht einfach nur unschuldig sein zu können.

„Es war die gewisse Stunde – selbst jetzt, selbst hier erkannte ich sie -, die mir liebste Stunde im Lager, und ein schneidendes, schmerzliches, vergebliches Gefühl ergriff mich: Heimweh. Alles war auf einmal wieder da, wurde lebendig und stieg in mir hoch, all die seltsamen Stimmungen, all die winzigen Erinnerungen überfielen, durchzitterten mich. Ja, in einem gewissen Sinn war das Leben dort reiner und schlichter gewesen.“

Was ist das Obszöne und Skandalöse an der Empfindung von Glück im Konzentrationslager? Ist es skandalös, dort nicht ständig und fortdauernd gelitten zu haben? Ist es obszön, das Nichtleiden überhaupt zu thematisieren? Für einen kindlichen Betrachter gibt es keine moralischen Werte, folglich muss diese Glücks-Fähigkeit als die Normalität der reduzierten, nackten Existenz angesehen werden. Es ist die menschliche Eigenschaft, in unausweichlichen Situationen und Abhängigkeiten, in denen dem Menschen einzig noch die Entscheidung bleibt, seine Daseinsform anzunehmen oder abzulehnen, das Leben zu wählen. Denn es ist unerträglich, keine Freiheit zu besitzen und damit einem Schicksal ausgeliefert zu sein. Die letzte Möglichkeit, (wenigstens) eine Freiheit zu besitzen, besteht in der Annahme und der tragischen Bejahung der momentanen Bedingungen (und damit der Ablehnung eines Schicksals). Insofern verwischt durch das nackte Bedürfnis, mit der Welt im Einklang zu sein, die Grenze zwischen Opfern und Tätern. Denn aus dem notwendigen Einrichten in einer verbrecherischen Lebenssituation folgt notwendig die Annahme von Schuld, nämlich der der Täter.

Kertesz ist kein Provokateur, der einem speziellen Realismus das Wort redet. Vielmehr ist die Darstellung von empfundenem Glück im Konzentrationslager, im weitesten Sinne, die Darstellung des Verletztseins an sich. Glück im KZ ist Verwundung.

Das schwere Begreifen dessen, beim oder nach dem Lesen, geht einher mit dem schweren Begreifen der Folgen des Holocaust. Damit unterscheidet sich dieser Roman in einmaliger Weise von moralisierenden Auseinandersetzungen mit dem Thema, weil letztere uns unbeschadet bleiben lassen. (Kertesz kritisiert z.B. das Ende des Films Schindlers Liste, da das feierliche Vorbeiziehen von Überlebenden der Konzentrationslager an einer Gedenkstätte ein körperliches und psychologisches Entrinnen aus den KZs suggeriert.) Kertesz aber hinterlässt einen verwundeten, mitschuldigen Leser und verdeutlicht damit literarisch-authentisch die weitreichenden ethischen Konsequenzen des Krieges.

Imre Kertesz: Roman eines Schicksallosen

Aus dem Ungarischen von Christiane Viragh
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1998

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