Die französische Musik und Bach

Ein Großes Concert während des Bachfests mit dem Gewandhausorchester unter Herbert Blomstedt und dem Solisten Michael Schönheit an der Orgel

Anlässlich des Grossen Concerts zum Bachfest erweist sich der Große Saal des Gewandhauses als flexibles Podium. Es ist erstaunlich, wie er sich an diesem Abend von einem Raum für Kammermusik in eine Virtuosenbühne und dann, nach der Pause, für die dritte Sinfonie von Arthur Honegger zum eigentlichen Konzertsaal wandelt.

Doch nun der Reihe nach. Durch das erste Werk des Abends, Johann Sebastian Bachs Orchestersuite Nr. 1 C-Dur, geleitet Maestro Blomstedt die Musiker mit leichter Hand, und zusammen verwandeln sie den Großen Saal in einen Raum voll feiner Kammermusik. Diese Orchestersuite ist allseits bekannt, und Blomstedt benötigt zum Dirigieren weder Noten noch Stab. Vermutlich in der Köthener Zeit 1717-1723 entstanden, hat Bach sie wohl später auch mit dem einst 1702 von Georg Philipp Telemann gegründeten Collegium musicum in den Leipziger Kaffeehäusern gespielt (als regelmäßige Konzertstätten waren diese zur damaligen Zeit von großer Bedeutung). Der Einfluss französischer Musik wird vor allem in der festlichen französischen Ouvertüre mit ihrem doppelt punktierten Rhythmus hörbar. Auch die Gattung der Orchestersuite selbst ist französischer Herkunft. Die Tänze wie Courante, Gavotte, Bourrée und nicht zuletzt das Menuett sind ursprünglich Volkstänze, aus denen im 17. Jahrhundert höfische Tänze wurden.

?Seit einem Menschenalter beschäftigen sich unsere Organisten fast ausschließlich mit Bach, er ist der Meister, der uns das Verständnis für die wahre Kunst des heiligen Instruments wieder eröffnet hat. Man redet von einer französischen Orgelschule…: sie gründet sich auf Bach!? Kein Geringerer als Charles-Marie Widor schrieb diese Worte für Albert Schweitzers berühmtes Buch über Johann Sebastian Bach. Marcel Dupré, als Schüler Widors, wuchs mit der französischen Orgel-Tradition des 19. Jahrhunderts auf und trug sie als gefeierter Solist und bekannter Lehrer bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die Tradition Bachs schrieb Dupré mit seinen drei Préludes und Fugen op. 7 von 1912 auf eigene Weise fort, die er auch später immer wieder aufführte.

Der glänzend aufgelegte Michael Schönheit fegt wie ein Liszt seines Faches über die Manuale, seine Mähne weht, und die im Vergleich zu Bach oft dissonanzreichere und mit typisch französischen Farben angereicherte Musik perlt dahin oder tönt wie aus weiter Ferne durch den Saal. Duprés Musik ist mal auftrumpfend und voll gewaltiger Virtuosität, mal voller zarter, fließender, innerlich empfundener Musik. Sie kennt in Schönheits Interpretation alle Nuancen jubelnder Feierlichkeit und stiller, schwebender Atmosphäre.

Die „Symphonie Liturgique“, Honeggers dritte Sinfonie, hängt für den Komponisten eng mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen. 1946 wurde sie als Auftragswerk der schweizerischen Stiftung „Pro Helevetia“ in Zürich uraufgeführt. Obwohl ihr Titel auf die mittelalterliche Liturgie hinweist, wird das „Dies irae“ (Tag des Zorns) aus der Totenmesse im ersten Satz nicht zitiert. Honegger bezieht sich nur auf die Worte, wie auch im zweiten Satz „De profundis clamavi, ad te, Domine“(Aus der Tiefe habe ich zu dir gerufen, Herr) und im Schlusssatz ?Dona nobis pacem?. Honegger selbst über seine Sinfonie:“Ich wollte in diesem Werk die Auflehnung des modernen Menschen gegen die Flut der Barbarei, der Dummheit, des Leidens, des Maschinismus, der Bürokratie symbolisieren, die uns seit einigen Jahren bestürmt. Ich habe in der Musik den Kampf dargestellt, der im Herzen des Menschen zwischen dem Verzicht auf die blinden, ihn einzwängenden Mächte und dem Drang nach Glück, Friedensliebe und der göttlichen Zuflucht ausgetragen wird.“ In dieser plastischen Musik kann der Hörer die Worte der Satztitel, aber auch des Komponisten eigene Beschreibung wiederfinden.

Honegger verwendet das Orchester wie eine Orgel. Er reizt jede Möglichkeit von Klangfarbe bis ins Detail aus, um quasi wie bei einer Orgel zu registrieren. Im ersten Satz dominieren Klangwucht, Unruhe, pulsierendes Vorwärtstreiben und in kurzen Abständen die Militärtrommel. Über allem entfalten sich langgezogene, mit Schostakowitsch vergleichbare Melodiebögen der Violinen. Vielschichtige Akkorde, Blechbläserschmettern, Pauken und Große Trommel malen ein düsteres Bild. Dieser Satz endet überraschend in Stille. Zu Beginn des zweiten Satzes wird die Hauptmelodie von den Hörnern intoniert, aber plötzlich steht dem zuvor bläserlastigen Klang ein reiner Streichersatz gegenüber. Eine Welt des Friedens entsteht. Aus dem ständigen Wechsel zwischen Holzbläser-, Blechbläser- und Streichersatz wird im weiteren Verlauf ein vielfarbiger Orchesterklang, in dem alle Instrumente zusammenwirken. Aber noch ist die Unruhe nicht gebannt, der Satz wird dramatischer, die Instrumentierung verschärft sich erneut, und die Musik wird zum choralartigen Hilferuf. Bevor der geheimnisvolle Marsch des dritten Satzes ansetzt, können die Streicher die Steigerung am Ende nochmals ablösen.

Im dritten Satz beginnen erneut pulsierende Rhythmen (wie erwähnt marschartig) und abstrakte, chromatisch angereicherte Melodien (Honegger selbst schreibt von einem „idiotischen Thema“), die der Groteske eines Schostakowitsch nahekommen, den Ruf nach Frieden mit der traurigen Realität einer brutalen Welt zu konfrontieren. Schräge, blechlastige Akkorde und vielfältiges Schlagwerk dominieren, und alles kulminiert in einem tumultuarischen Klang, der mit dem Tamtam-Gongschlag zu schmerzender Lautstärke anwächst. Doch hier schlägt das Ganze um. Es bleibt von dieser apokalyptischen Musik die leise Militärtrommel übrig, aber auch sie wird letztendlich verdrängt und ein wunderbares Cello-Solo auf einem Streicherteppich baut eine entrückte Atmosphäre auf. Auch Flöte, Violine und Piccoloflöte treten solistisch hervor, und so klingt diese meisterhafte Sinfonie in versöhnlicher Stimmung aus.

Grosses Concert zum Bachfest

Johann Sebastian Bach (1685?1750)
Orchestersuite Nr 1 C-Dur BWV 1066

Marcel Dupré (1886?1971)
Trois Préludes et Fugues pour Grand Orgue op. 7 (1912)
(Drei Präludien und Fugen für große Orgel)

Arthur Honegger (1892?1955)
Sinfonie Nr. 3 („Symphonie Liturgique“) (1946)

Gewandhausorchester
Dirigent: Herbert Blomstedt
Solist: Michael Schönheit (Orgel)

10. Mai 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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