„Novecento” – Solotheater nach Alessandro Baricco (Britta Paasche)

10.05.2002 Schaubühne Lindenfels

?Novecento? – Solotheater nach Alessandro Baricco

Regie: Anka Baier / René Reinhardt
Darsteller: René Reinhardt


Schiff ahoi!

Die ?Virginian? ist geschrumpft, auf die Größe eines Flügels. Das Meer reicht fast bis an die Tasten. Der ebenerdige Bühnenraum der Schaubühne Lindenfels ist gänzlich mit einer weißen Folie bespannt, Ventilatoren erzeugen sanfte Wellen, farbige Scheinwerfer bewirken Lichtreflexe. Aus der Untiefe des weißen Plastikmeeres taucht ein Mann auf; Eiswürfel in den Taschen genehmigt er sich erstmal einen Whiskey. In seiner schwarzen Hose und dem eher schlecht sitzenden braunen Zweireiher über weißem Hemd sieht er ein wenig heruntergekommen aus. Schon bald stellt er sich als Tim Tulip vor, er ist Trompeter. Aus dessen Perspektive erfährt der Zuschauer hauptsächlich die Geschichte Novecentos.

Besagter Novecento (neunzehnhundert), mit vollem Namen Danny Bootman T. D. Lemon Novecento, ist Pianist auf dem Ozeandampfer ?Virginian?. Dieses Schiff ist sein Geburtsort, seine Schule, sein Arbeitsplatz und letztlich wird es auch sein Grab. Als Neugeborener in einer Schachtel, auf dem Flügel des Ballsaals der ersten Klasse ausgesetzt, findet ihn der Matrose Danny Bootman und nimmt sich des Jungen an. Mit acht Jahren verliert Novecento seinen Ziehvater, fünfzigmal ist er zu diesem Zeitpunkt bereits zwischen Europa und Amerika hin- und hergefahren, und wie durch ein Wunder hat er inzwischen gelernt, Klavier zu spielen. Sein Spiel wird für die Zuhörenden zum Erweckungserlebnis. Aus dem Wunderknaben wird ein auch auf dem Festland bekannter Pianist.

Novecentos einziges Handicap ist, dass er dieses Schiff nicht verlassen will und kann. Ihm sind bereits Häfen nicht ganz geheuer und außerdem besteht für ihn kein Anlass, von der ?Virginian? an Land zu gehen. Denn schließlich kommt die ganze Welt an Bord. Novecento versteht es, in den Augen der Menschen zu lesen, durch sie lernt er das ‚Wirkliche‘ kennen.

Das Meer, Ort des Wandels und der Unbeständigkeit, wird Novecento zur sicheren Heimat. Nur auf dem Schiff fühlt er sich geborgen. Als er einen einzigen Versuch eines Landgangs unternimmt, scheitert er. Schon auf der dritten Stufe der Gangway kehrt Novecento in den schützenden Bauch des Schiffes zurück. Ihn ängstigt die Unendlichkeit der Welt. Allein mit seinem Instrument fühlt er sich sicher. Der Flügel mit seinen achtundachtzig Tasten ist endlich, ein konkretes Gegenüber für einen unendlichen Menschen. Die ihm unendlich scheinende Welt dagegen, setzt seiner eigenen Unendlichkeit nichts entgegen.

Novecento baut sich aus dem Versagen eine Lebensphilosophie: Als Wünsche entzaubern und sie damit hinter sich lassen beschreibt er diese Technik später. Genauso hat er am Ende auch seine Wünsche nach Frau, Vaterschaft, einem Stück Land, Freude, Staunen, Wunder, Wut, Musik und Freude hinter sich gelassen. Als die ?Virginian? in den Wirren des Ersten Weltkrieges versenkt wird, geht Novecento freiwillig mit ihr unter. Die Welt von 1900 gibt es nicht mehr – mit dem Krieg ist eine neue Zeit angebrochen.

Bei ?Novecento?, dem Solotheater nach dem gleichnamigen Roman Alessandro Bariccos, handelt es sich um eine Wiederaufnahme der Schaubühne Lindenfels. Premiere hatte das von Anka Baier und René Reinhardt inszenierte Stück bereits im Mai 1999. Reinhardt selbst spielt das Solo. In der Haltung eines guten, seine Worte illustrierenden Erzählers, nimmt er den Zuschauer mit auf seine Reise, lässt ihn mitreisen auf dem Ozeandampfer ?Virginian?.

Man muss sich einlassen wollen auf diese kleine Stück, das eher durch Nuancen, als durch große Aktionen auf sich aufmerksam macht. Die Inszenierung kommt mit wenigen Requisiten aus. Neben dem Flügel und dem schon erwähnten Whiskeyglas reichen die Andeutung einer Trompete, ein Hut und ein Barhocker aus, um Ort und Geschehen zu skizzieren. Fast hörspielartig erzählt das Stück einfach eine Geschichte. Mit viel Sprachgefühl entfaltet Reinhardt das poetische Märchen vom Ozeanpianisten. Er folgt dabei, so scheint es, der Erzählstruktur des Romans, behält Sprünge in Zeit und Perspektive bei. Besonders gut ist er, wenn er clownesk und Chaplin-artig über den vom Sturm umwehten Flügel balanciert, zur eingespielten Jazz- und Ragtime-Musik tanzt oder die verschiedenen Charaktere mit kleinen Gesten oder sprachlichen Besonderheiten zu umreißen versteht. Es gelingt Reinhardt, die Spannung über den Abend zu bewahren und neugierig zu machen auf diesen Menschen, Danny Bootman T. D. Lemon Novecento.

(Britta Paasche)

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