Ein konzertantes Drama

Ein „Grosses Concert“ unter Herbert Blomstedt mit Henzes Neunter

Hans Werner Henze (*1926) gehört zu den berühmtesten Komponisten der Gegenwart. Bekannt geworden ist er seit den 1950er Jahren als Antipode der Darmstädter Schule, in der die serielle und elektronische Musik u.a. Stockhausens, Boulez` und Nonos als vorherrschend galt. Henze spricht 1979 sogar von einer Art Arbeitsteilung, die ihm damals als Komponist die Sinfonieorchester und Opernhäuser „zur Verfügung stellte“, während jene oben genannten Komponisten in den Studios des Rundfunks nach neuen elektronischen Klangwelten suchten.

Henze hat sich nicht beirren lassen in seinem eigenen Streben nach Klangwelten, die für die Hörer verständlich sind. Seine Opern wie „König Hirsch“, „Der Prinz von Homburg“, „Elegie für junge Liebende“ oder „Der junge Lord“ haben ihm Weltgeltung verschafft. Seine Auseinandersetzung mit der besonders nach 1945 immer wieder totgesagten Gattung Sinfonie hat bisher neun völlig unterschiedliche Sinfonien hervorgebracht, die Zehnte wird noch in diesem Jahr ihre Uraufführung erleben. Henze hat jede mögliche Auseinandersetzung mit der Gattung Sinfonie probiert und so fügt sich seine Neunte (die eher ein dramatisches Oratorium ohne Solisten oder eine Oper ohne Bühnenaktion ist) in gewissem Sinne logisch in die Reihe der bisherigen heterogenen Sinfonien ein.

Henzes Sinfonie Nr. 9 (1997) ist ein seltsames Werk. Es ist dramatische Musik, die eine ebenso dramatische Handlung – der Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager – illustriert. Und sie tut es auf sehr deutliche Weise. Es wirkt jedoch plakativ, wenn z. B. im ersten Satz „Flucht“ bei den Worten „Ich höre Komandos und Pfiffe“ Trillerpfeifen im Orchester erklingen. Wenn zuvor im Chor von Musik gesungen wird, Musik, die aus einem Wirtshaus dringt, so hört man tatsächlich einen grotesken Walzer im Orchester. Auch im fünften Satz „Der Sturz“ kehren die Trillerpfeifen wieder, wenn im Text vom Geheul von Sirenen, Schüssen und dem Bellen der Hunde der Verfolger die Rede ist. Im dritten Satz „Bericht der Verfolger“ sollen Kastagnetten und verschiedenes Schlagwerk das Schreibmaschinengeklapper der Rapport erstattenden Verfolger darstellen. Das ist allzu deutlich nachvollziehbar.

Der Text dieser Chorsinfonie mit großem Orchesterapparat und viel Schlagwerk ist von Hans-Ulrich Treichel auf Basis von Anna Seghers` Roman „Das siebte Kreuz“ aus dem Jahre 1942 verfasst worden. In sieben unterschiedlich langen Sätzen thematisieren der Textdichter und der Komponist die Schrecken, die die Widerstandskämpfer in der Nazizeit erlitten haben. Die Sinfonie hat Henze den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus gewidmet. Es stimmt, was der Komponist selbst über seine Neunte sagt: „Was in dieser Sinfonie geschieht, ist eine Apotheose des Schrecklichen und Schmerzlichen.“ Aber kann man wirklich das Schreckliche und Schmerzliche vergöttern, verherrlichen (der Bedeutung des Wortes Apotheose folgend)?

Für den Komponisten selbst ist es eine, nach eigenen Worten, der extremsten künstlerischen Erfahrungen, und es ist die Auseinandersetzung mit den Schrecken des Faschismus, die er als junger Mensch selbst miterleben musste. Dies hat ihn geprägt und in der neunten Sinfonie versucht er, seine Erfahrungen nach gut 50 Jahren musikalisch zu verarbeiten. Er hat es vermocht, die Dichtung so unmittelbar bildhaft darzustellen, sie vom Chor unablässig singen zu lassen, dass man dem Inhalt (auch durch Mitlesen des Textes) mühelos folgen kann. Der Inhalt der Dichtung ist das alles Beherrschende.

Leider hat die Musik dadurch nur eine dramatisierende Funktion und kann an wenigen Stellen einen eigenen Charakter entwickeln. Sie ist oft in zu vielen Farben gemalt, die dann drohen, sich zu einer grauen Masse zusammenzuballen. Häufig singt der Chor in immer wiederkehrenden hohen Registern der Frauenstimmen mit ähnlichen Klängen (aus Quinten, Quarten, Sekunden), die sich mit der Zeit jedoch abnutzen. Die die ganze Sinfonie hindurch flüchtende Hauptperson wird vom großen Chor verkörpert.

Die Musik Henzes erinnert in ihrem Duktus an die Musik des 19. Jh., aber ihre Klangwelt ist eine ganz andere. Entwicklungen bauen sich auf und enden in logischen Abschlüssen, verwobene Linien greifen ineinander, berühren sich, aber löschen sich oft auch gegenseitig aus. Atonikalität, d. h. Orientierungslosigkeit, bleibt neben der ständigen Unruhe als das fasslichste Beschreibungsmerkmal in Erinnerung. Als Sinfonie und gerade als neunte mit Chor setzt sie sich natürlich mit dem Vorbild Beethoven auseinander. Anders als in Beethovens Neunter werden „nicht die Freude schöner Götterfunken besungen“, sondern sind in Henzes Neunter „den ganzen Abend Menschen damit beschäftigt, die immer noch nicht vergangene Welt des Grauens und der Verfolgung zu evozieren, die weiterhin ihre Schatten wirft“(Henze 1997). Und der Chor singt von Anfang an, ist ständig beschäftigt. Er ist kein Höhepunkt mehr, sondern Teil des Orchesters. Mit ihm verklingt auch der siebente Satz „Rettung“, bei dem sich jedoch keine wirklich verklärte Stimmung des Gerettetseins einstellen will. Die Sinfonie endet vielmehr musikalisch offen und nachdenklich machend, leise.

Gewandhausorchester
Dirigent: Herbert Blomstedt
Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gerd Müller- orenz)
Solist: Christian Gerhaher (Bass)

Johann Sebastian Bach (1685?1750)
Kantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“BWV 56

Hans Werner Henze (*1926)
Sinfonia N. 9 für gemischten Chor und Orchester,
Dichtung Hans-Ulrich Treichel (1997)
1. Die Flucht, 2. Bei den Toten, 3. Bericht der Verfolger,
4. Die Platane, 5. Der Sturz, 6. Nachts im Dom, 7. Rettung

16. Mai 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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