„TaigaBlues“

Von russischer Musik auf Balalaika und Bajan begleitet liest Siegfried Worch aus dem Buch von Alexander Ikonnikow

Als eine Vertreterin des Kuratoriums Haus des Buches den Autor kurz vorstellte, wurde mir klar, daß es sich um einen modernen Geschichtensammler à la Brüder Grimm handelt. Der junge Lehrer Alexander Ikonnikov (geb. 1974) reist durch die Weiten der osteuropäischen Steppen auf der Suche nach typisch russischen Volksweisen. Wer von den zahlreichen Zuhörern (etwa 40-50) meinte, dieses Buch würde vor Langeweile strotzen – immerhin kennt doch jeder russische Märchen -, hatte sich mächtig geirrt.

Jede vorgetragene Geschichte erwies sich als ein literarisches Kleinod: Ob es sich um eine moderne Sage oder um ein modernes Märchen handelte, ob eine Anekdote erzählt oder eine Volksweisheit zum Besten gegeben wurde, immer konnte ich einen Erzähler erkennen, dessen gutmütiges Lächeln nicht vom Gesicht weichen wollte. Selbst wenn ein ironischer Unterton durchdrang oder wenn sein Humor rabenschwarz wurde, immer konnte ich die Wärme in seinem Ton spüren. Und es schien nicht nur mir so zu gehen, denn die Reaktion der anderen Zuhörer zeigte, daß sie von diesem warmherzigen Erzähler so sehr angezogen wurden, daß sie sich wunderten, wenn er sich wunderte, daß sie hochmütig wurden, wenn er erzählte, wie dumm sich Menschen verhalten und daß sie lachten, wenn ihm zu Lachen zumute war. Auf diese Weise wurden wir alle in die Geheimnisse des Lebens – „des verzögerten Sprungs aus der Gebärmutter in den Tod“ – in Rußland eingeführt, dessen Reichtum aus „20.000 rostenden Panzern“ besteht und „wo selbst ein entlassener Strafgefangener ein DUMA-Mitglied werden kann“. Im Gegensatz zu Amerika, wo ein Russe höchstens zum Tellerwäscher avanciere.

Der Einstieg in diese Welt wurde uns Zuhörern durch den Schauspieler Siegfried Worch sehr erleichtert, der mehr als ein Dutzend der Geschichten exzellent vortrug. – Für Zweifler: Er las auf deutsch. Den Intentionen und Gefühlen des Erzählers folgte Worch ebenso treu wie den zahlreichen Äußerungen der sprechenden Figuren, so daß die Geschichten nichts von ihrer charakteristischen Lebendigkeit einbüßten. Sie erzählen alle vom Alltag und der Armut auf dem Lande. In der Bekämpfung der Trostlosigkeit spielt insbesondere der Alkohol eine zentrale Rolle. Politiker und Offiziere sind nicht intelligenter als einfache Kolchose-Arbeiter, und die Menschen empfinden die moderne Welt des Westens als ein Mysterium.

Diesem Weltbild entsprechend erzählt ein Reisender aus der Stadt, wie er im Winter in einem eingeschneiten Dorf steckenbleibt. Dort findet er ein Nachtquartier und erfährt, daß in den nächsten Tagen die einzige Chance weiterzukommen der Pferdeschlitten seines Gastgebers sei. Doch da dieser dem Grundsatz: „Fahre nie, wenn Du betrunken bist!“ treu bleibt, während seine zweite Devise ist, immer betrunken zu sein, scheint der Städter bis zur Schneeschmelze verdammt, nicht weiter zu können. In einer anderen Geschichte hält ein Angeklagter sein Plädoyer: Alexander der Große sei schuld daran, daß er hier steht, denn ohne den Zaren gäbe es keine Kartoffeln in Rußland. Kartoffeln, die zu seinem Alptraum geworden seien, weil jedes russische Gericht aus Kartoffeln bestehe und weil sich sein gesamtes Arbeitsleben, das schon im Kindesalter begonnen hat, um das Kartoffelklauben gedreht habe. Und da sei es doch kein Wunder und nicht seine Schuld, daß er jetzt vor Gericht stehe, nachdem er auch noch ein Rezeptbuch mit über 200 Kartoffelgerichten geschenkt bekommen hat!

Der Plot dieser Geschichten erinnert eindeutig an die Prosa des guten alten Puschkin, in der Kuriositäten des russischen kleinbürgerlichen Verhaltens vor dem Hintergrund der russischen Natur und Gewalt beleuchtet werden. Humor und variierende Sprachstile, die Puschkin erfolgreich in der russischen Literatur etabliert hat, sind die charakteristischen Merkmale in Ikonnikovs Erzählungen.

Wie anders als mit Lachen sollten wir Zuhörer reagieren:

– Wenn uns erzählt wird, daß ein Mann ins Irrenhaus gekommen ist, nachdem er sich wegen des Sacks Gurken, den er zuvor aus dem Fluß gefischt hatte, von einem Laster mitnehmen ließ und sich dort wegen des Regens zum Schlafen in einen Sarg legte. Als er erwachte und aus dem Sarg stieg, brachte er zu seinem Erstaunen eine ganze Gesellschaft in Aufruhr. Um die erschreckten alten Frauen wieder ins Leben zu rufen, kam nicht nur die Erste Hilfe, es kamen auch die mit der weißen Jacke …

– Wenn uns erzählt wird, daß ein Forstbeamter, der den Auftrag bekommt, er soll ein „Monitoring“ durchführen, meint, man wolle ihn ob seines fortgeschrittenen Alters mit diesem Phantasiebegriff eine Falle stellen, um einen Grund für seine Entlassung zu finden. Verzweifelt und naiv versucht er, seine Arbeitsstelle zu retten, indem er einen Rechenschaftsbericht aus vollkommen veraltetem Material zusammenstellt. Und wenn uns im Anschluß daran erzählt wird, daß der Beamte sich nicht nur gerettet hat, sondern daß er durch diesen Bericht sogar öffentlich gelobt und mit einer Beförderung ausgezeichnet wurde! Dann können wir gar nicht mehr anders als lachen, auch wenn, wie ich bemerkt habe, in allen Geschichten ein wehmütiger Klang nicht verstummen wollte: War es die Sehnsucht nach der guten alten Zeit oder hörte man da die Enttäuschung darüber heraus, daß das liebenswürdige russische Volk nicht mit den modernen Lebensumständen klarkommt? Wahrscheinlich setzt sich der Beiklang aus einem Gemisch beider Gefühle zusammen.

Nun wurde mir auch klar, warum der deutsche Verlag dem Buch den Titel TaigaBlues gegeben hat, statt den Originaltitel „Berichte aus der Schlammzeit“ beizubehalten. Es ist nicht nur, wie ich befürchtete, eine Wahl, um das Buch besser verkaufen zu können: Geschichten aus der Taiga, die nicht wie die alten russischen Weisen hermetisch von der restlichen Welt abgeschlossen sind, werden mit zwei Gefühlen vorgetragen, die gleichberechtigt miteinander kulminieren. Dieser russische Blues wurde durch Balalaika und Bajan von Funkner & Co. sehr eindrücklich und stimmungsvoll umgesetzt.

Sollte man mich nach dieser Lesung fragen, was das Besondere an TaigaBlues ist, würde ich betonen, daß es – auch ohne musikalische Beilage – ein lebendiges literarisches Dokument der „russischen Seele“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist.

Alexander Ikonnikow: TaigaBlues
Lesung: Alexander Ikonnikows
Musikalische Begleitung von Eduad Funkner & Co.
30. Mai 2002, Haus des Buches

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