Die Relativität der Dinge

Musica Nova: Das Ensemble Avantgarde spielt Benjamin, Mochizuki, Kondo und Messiaen

„Das hätte ich auch spielen können“, sagte zu Beginn der Pause jemand, der hinter mir saß. Er sinnierte gerade darüber, dass manche Leute (einschließlich ihm, glaube ich) sein Geklimper nicht von der „Etude Mode de valeur et d’intensité“ hätten unterscheiden können. Ein zögerliches Naja der Mitsitzenden leitete dann die Erzählung eines beisitzenden „Musikkenners“ ein, der von John Cages berühmtem Stück 3’20“ sprach. Alle waren fasziniert, auch wenn es eigentlich 4’33“ heißt. Sie gingen gemeinsam hinaus. In der geschlossenen Gruppe ist der Konsens der Unwissenden das Diktum der Wahrheit.
Relativ wahr.

Ich flanierte daraufhin durch den Saal, vorbei an der Bühne. Ich bin weiter auf der Suche nach Relativität. Dann, beim Schlagwerk, finde ich sie erneut: Im Windspiel mit seinen vielen Glasfaserstäbchen war bei den größeren eines abgebrochen. Durch seine einzigartige Kürze war es deutlich sichtbar. Klingt es deswegen anders?
Relativ wenig.

Zurückgekehrt auf meinen Platz schaute ich auf die windspielartigen Glasröhrchen, die die Glühlampen der Riesenleuchter im Saal umgeben und dachte an den ersten Teil des Konzerts. Benjamin – Messiaen – Benjamin. Die Kompositionen des Schülers umrahmten die seines Lehrers. Ja, im Octet hörte ich additive Rhythmen, Harmonik mit übermäßigen Akkorden, Messiaens geliebtes Vogelgezwitscher. Wirkte etwa die Macht des alten Meisters auf des Schülers Frühwerk?
Nein, wer eine Assoziation haben will, bekommt sie auch. Aber Messiaens Schüler sind keine kleinen Messiaens, sie sind ihm entwachsen und formen sich neu.
Relativ neu.

Wie ist das mit Osten und Westen? Messiaen ist veröstlichter Westen, mit seiner Japan- und Indien-Bewandertheit mit der er sein klangliches Universum schafft und darin aufgeht. Die Japanerin Mochizuki lebt in Paris. Ihr Universum ist physikalisch und biologisch, mit ihren rotierenden Bewegungsstudien und der aus dem Reagenzglas kriechenden Chimäre, sie ist verwestlichter Osten. Ist das wesentlich? Die Japaner nennen sich der Ferne Osten. Es ist ein Name.
Relativ unwichtig.

Ich wartete auf das Ende der Pause. Der Jemand hinter mir war wieder da. Vielleicht gibt es eines Tages für ihn doch einen Unterschied zwischen seinem Geklimper und Messiaen. Und vielleicht wird das Windspiel irgendwann repariert und es klingt doch so weiter. Und vielleicht hört man schließlich einmal Musik ohne Namen von Himmelsrichtungen. „Das kann ich auch hören“, müsste es heißen.
Der Konsens der Wissenden ist die Relativität.

musica nova, 6. Konzert

Ensemble Avantgarde:
Ralf Mielke – Flöte, Bassflöte, Matthias Kreher – Klarinette, Ingolf Barchmann – Bassklarinette, Martin Losert – Saxofon, Bernd Bartels – Trompete, Tobias Hasselt – Posaune, Stefan Stopora, Sven Pauli, Winfried Nitzsche – Schlagzeug, Andreas Seidel, Tilman Brüning – Violine, Matthias Moosdorf – Violoncello, Thomas Schicke – Kontrabass

Dorothea Hemken – Viola
Ivo Bauer – Viola
Steffen Schleiermacher – Klavier

Dirigent: Roland Kluttig

„OST – WEST“

George Benjamin – Octet (1978)
Olivier Messiaen – Etude Mode de valeur et d’intensité (1949)
– Neumes Rhythmiques (1949)
George Benjamin – Viola, Viola (1997)

Misato Mochizuki – All that is including me (1996)
Jo Kondo – High Window (1996)
Misato Mochizuki – Chimera (2000)

5. Juni 2002, Mendelssohn-Saal

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