Bach und Modernes: Musik in der Leipziger Baumwollspinnerei
Die „Kunst der Fuge“Johann Sebastian Bachs gilt einerseits als Höhepunkt der kontrapunktischen Polyphonie, andererseits aber hört man in der Harmonik Bachs schon Momente, die in klassischer Reinheit erst bei Beethoven oder Mozart zu finden sind bzw. später in der romantischen Musik zu einer stark erweiterten und sogar den Kadenzrahmen sprengenden Harmonik wurden. Obwohl die durch Felix Mendelssohn Bartholdy ausgelöste Bach-Renaissance Mitte des 19. Jhs. großen Einfluss auf die Rezeption Bach`scher Musik ausübte, blieb Bachs Polyphonie und Kontrapunktkunst im Gedächtnis der Musikschaffenden und -lehrenden als Tradition zum großen Teil erhalten. Mit Stücken wie dem „Contrapunctus I“ der „Kunst der Fuge“ wuchs seit jeher jeder Musiker auf, Bach war nie verloren und man wird ihn auch nie verlieren.Bach als Prüfstein für die Komponisten nach ihm. Bach als nie erreichter Meister, so meint man, und zum heutigen Konzert gibt es Gelegenheit, zu erkunden, ob dies denn auch wirklich so sei. Entstanden ist das Programm dieses Konzertes mit Ausschnitten aus Bachs „Kunst der Fuge“ und zeitgenössischen Kompositionen im Auftrag des Ensembles ?barock a.c.c.u.u.t.? und es wurde im Rahmen des großen Bachfestes anlässlich des 250. Todestages Johann Sebastian Bachs im Jahr 2000 in Leipzig (und zuvor in Erfurt) von diesem Ensemble uraufgeführt. „barock a.c.c.u.u.t.“ besteht seit 1995, die Mitglieder sind mittlerweile dem Studentenalter längst entwachsen und allesamt gestandene Musiker. Die beauftragten Komponisten jedoch entstammen verschiedenen Generationen. Reinhard Pfundt (*1951, Professor für Komposition und Tonsatz an der Hochschule für Musik und Theater – hmt – in Leipzig) kann ein beachtliches kompositorisches l´uvre vorweisen, Ines Mainz ist Professorin für Musikpädagogik in Augsburg und Leipzig und Hans-Gunter Lock (*1974) hat an der hmt Tonsatz und Komposition studiert. Ein DAAD-Stipendium führte ihn an die Musikakademie Tallinn (Estland), wo er Musikwissenschaft studiert. Entstanden sind die Kompositionen für das Projekt „Johann Sebastian Bach – Reflexionen“, das Ensemble wollte Leipziger zeitgenössische Komponisten verschiedener Generationen dafür gewinnen. Bedingung für die Kompositionsaufträge war, dass die Musik für historische Instrumente entsteht, denn „barock a.c.c.u.u.t.“ spielt auf historischen Instrumenten.
Jetzt, nach gut zwei Jahren, erklingt dieses Programm nun erneut und beweist umso mehr seine musikalische Schlüssigkeit. Das Konzept des Programms besteht in der Verflechtung von Bachs „Kunst der Fuge“ mit den von diesem Thema inspirierten zeitgenössischen Werken, die jedes für sich eine gänzlich andere kompositorische Herangehensweise in der Reflexion auf die Bachsch’e Musik aufweisen. Schlüssigkeit deshalb, weil man trotz der unterschiedlichen Kompositionskonzepte bei jedem Werk den Bach’schen Geist wirken hört.
Nach Bachs „Contrapunktus I“ erklingen die „Vermischten Momente“ von Hans-Gunter Lock, die durch ihre Lebendigkeit bestechen. Für jedes Instrument gibt es Sololinien. Antje Fleischmann beginnt mit der Barockflöte in einsamer Höhe und bald darauf setzen die anderen Ensemblemitglieder mit eigenen Linien ein, die sich ineinander verweben, ohne jedoch bewusst Akkorde bilden zu wollen. Das Prinzip der Komposition besteht darin, dass die Linien einander berühren, jedoch keine konstruierten Zusammenklänge bilden, sondern alles dem Verlauf der Linien unterworfen ist. Das ist ein sehr konsequentes Konzept, dessen klangliches Ergebnis bei der Uraufführung noch relativ schwer zu hören und zu verstehen war, sich nun jedoch als lebendiger, sprechender Gesamtklang erwies. Auch das Cembalo, als „zupfendes“ Tasteninstrument sehr schwierig zu handhaben, fügt sich passend in diese Linearität ein und erhält auch solistische Passagen. Natürlich sind barocke Anklänge zu hören, denn Triller oder Sechzehntelgruppen oder die Polyphonie lassen sofort Assoziationen an die Gestik der Barockmusik zu. Am Ende klingen die „Vermischten Momente“ mit einer solistischen, leiser werdenden einsamen Linie des Kontrabasses aus und über die gerade noch vernommene Welt der sprechenden Charaktere senkt sich Stille, in die dann der Beifall des Auditoriums hineinbricht.
Der „Contrapunktus IV“ führt uns erneut in die faszinierende Welt der Bachschen Musik. Sie strahlt viel Frieden, Zuversicht und Freude aus. Ein Kosmos der Vollkommenheit öffnet sich. Der Konzertraum (eine rußige Farbrikhalle der alten Leipziger Baumwollspinnerei) korrespondiert in seiner Unvollkommenheit wunderbar mit dieser vollkommenen Schönheit der Musik. Endlich erscheint Bach nicht als angebeteter musikalischer Gott, der auf den Konzertbühnen des 19. und 20. Jhs. zelebriert wird, vielmehr verströmt seine Musik natürliche Lebendigkeit in einem Raum, in dem sie sich frei von allen Assoziationen, im Gegenteil zu einem Kirchenschiff oder einer Konzertbühne, ausbreiten kann. Die barocken Instrumente tragen ihr Übriges bei zu einem schönen Klang, den man sich gemeinhin als Originalklang vorstellt, wenngleich es sich natürlich immer auch um eine Interpretation des Ensembles handelt.
Zu „Every time Bach“ von Ines Mainz tritt der Tänzer Kaspar Mainz in barocker Tracht auf die Bühne und die Musik beginnt sofort, in barocken Strukturen zu schwingen. Der Tänzer macht nur wenige Bewegungen, die sich als Gesten der barocken Tanzmusik deuten lassen. Leider sieht alles etwas hölzern aus und Tänzer und Musik wollen zunächst nicht recht zueinander finden. Als besonderes Mittel der sich später dann einstellenden Kooperation zwischen Tänzer und Musikern fungieren die Bewegungen, die der Tänzer mit der Flötistin ausführt, während diese spielt. Wenn später der Kontrabassist sein Instrument nimmt und durch den Raum hastet, so fehlte doch diesmal der Clou, der bei der Uraufführung das ganze so nachvollziehbar gemacht hatte, nämlich dass eben jener Kontrabassist sein Handy nimmt und wie wild telefoniert. Damit war deutlich geworden, dass der Stress der Musiker gemeint war, der sie von Konzert zu Konzert hasten und nie zur Ruhe kommen lässt.
Musikalisch wird natürlich auch Bachs „Contrapunktus I“ zitiert und die barocke Musik perlt immer virtuoser (sogar an die von der Technomusik bekanntermaßen ausgeschlachtete Toccata und Fuge erinnernd) dahin. Auch dies ein Mittel, um erstens die Allgegenwart Bachs, aber auch das hektische Musikerleben zu charakterisieren. Insgesamt sieht alles recht spektakulär aus und das Ende ist ein Ritual der Anbetung der Barockmusik (in Gestalt der aufs Podest gehobenen Flötistin) vor der der Tänzer achtungsvoll kniet.Contrapunctus VII, solistisch gespielt von Ulrike Wappler am Cembalo, führt uns erneut in die Welt Bachs und gerade hier fällt die Filigranität auf, mit der Bach seine Polyphonie so unerreichbar meisterhaft ausgestaltet. Und die Harmonik ist wahrlich an ganz vielen Stellen unglaublich „modern“. So ist denn die „Kunst der Fuge“ auch für Reinhard Pfundts „Vertiefung in ein Thema von Bach“ eine Quelle der Inspiration. Seine Musik kann man eine echte Vertiefung nennen, denn Pfundt verarbeitet das Material des Fugenthemas in unterschiedlicher Weise, er schafft eine barocke Klanglichkeit, die sich nicht sehr weit vom Original wegbewegt. Vielmehr ist es eine Ausformung des Materials bis in seine kleinsten Bestandteile hinein. Sich darauf einlassend eröffnet sich auch bei dieser Musik eine lebendige Welt, die in sich von durchaus strengem formalen Bau ist und von einem Beginn mit vielen Quinten über einen belebten Mittelteil wieder zu Quinten hinstrebt. Als Abschluss erscheint ein Ostinato, über dem erneut die Flöte solistisch hervortritt und sofort kann man den Bogen zum ersten zeitgenössischen Werk des Abends („Vermischte Momente“) spannen, bei der die Flöte ebenfalls solistisch begann.
Wie nun gehen die zeitgenössischen Komponisten mit dem historischen Instrumentarium um? Hans-Gunter Lock hat einen Weg beschritten, den er selbst als Wagnis bezeichnet hat. Die Töne des Fugenthemas werden nur als strukturelles Gerüst verwendet, während das sonstige Primat der Linien gewiss ein ungewöhnliches Organisationsprinzip darstellt. So bewegt er sich von allen Komponisten am weitesten weg von der Inspirationsquelle Bach. Das Instrumentarium wird von ihm mit eigenständigem Kompositionsprinzip neu verwendet, allerdings findet sich auch bei ihm latente Kontrapunktik, die sofort barocken Klang assoziiert. Sowohl bei Ines Mainz, als auch bei Reinhard Pfundt kommt zum Ausdruck, dass sie durch ihre Kompositionsweise an die Bachsche Musik direkt anknüpfen, das Instrumentarium damit kein großes Problem darstellt. Man kann also auf verschiedene Weise Bachs Musik reflektieren und jeder kommt zu einem für ihn schlüssigen Ergebnis.
4. Westend-Konzert
Veranstalter: Sächsischer Musikbund e.V. und „Westendkultur e.V.“Ensemble „barock a.c.c.u.u.t.“
Barockflöte – Antje Fleischmann
Barockvioline/Barockviola – Cosima Taubert
Barockbass – Carsten Hundt
Cembalo – Ulrike Wappler
Barockcello – Anja Enderle
Barockvioline – Tobias Sroka
Choreographie und Tanz – Kaspar MainzProgramm
Ausschnitte aus der „Kunst der Fuge“ von J. S. Bach
im Wechsel mit Werken der Leipziger Komponisten
Hans-Gunter Lock, Ines Mainz und Reinhard Pfundt
(Detailliertes Programm am Ende des Textes)
Detailiertes Programm:J. S. Bach (1685?1750)
Contrapunktus I Hans-Gunter Lock (*1974)
„Vermischte Momente“ (2000)Bach
Contrapunctus IV Ines Mainz
„Every time Bach“ (2000)Bach
Contrapunctus VIIReinhard Pfundt (*1951)
„Vertiefung in ein Thema von Bach“ (2000)
21. Juni 2002, Musik in der Leipziger Baumwollspinnerei „Tangofabrik“
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