Naive Fantasie

„Klangrausch“: Vier Konzerte mit neuer Musik im MDR-Studio am Augustusplatz

oi uae eo iuo! (e-)oee i eie eie!
Ein bärtiger, grauhaariger Mann sitzt an einem Gerät. Seine Beine bewegen sich unablässig auf und ab, seine Hände sind scheinbar still. Aus dem Gerät kommen Töne, klavierartige Töne, mal schneller, mal langsamer, Sekunden, kleine und große, hier und da, ein großes Stück kleingemacht. Dann schreit das Gerät: Beethoven, Beethoven, Beethoven! und schimpft über ein verlorenes Geldstück in drei Tonarten und Geschwindigkeiten. Dann verstummt es. Der Mann steht auf und ein Schleiermacher kommt nach vorne, um die Situation zu entschleiern. Wir klatschen.

Umstellungen sind meist schwierig, aber auch amüsant. Da wir seit Jahrzehnten musikalische Umstellungen erfahren (die fast immer schwierig, aber nicht immer amüsant sind) und in diesem Jahr auch finanzielle (wenn auch nicht immer in Zahlen, sondern nur in Zeichen) liegt es durchaus nahe, beides zusammenzubringen. Dass das nur spielerisch erfolgen kann, liegt an der konventionellen Ernsthaftigkeit beider Elemente.

Ein ebensolches Spiel ist Heisigs Stück, das dabei strenger komponiert ist, als jede notierte Musik. Denn die Phonola, ein Selbstspielklavier, bei dem man lediglich die Bewegungsgeschwindigkeit einer gestanzten Papierrolle, drei Lautstärkenstufen und die Luftzufuhr kontrollieren kann, macht den Spieler zum Knecht einer Funktionalität. Dadurch ist die Vorarbeit des Künstlers, nämlich das kompositorische Stanzen, direkt erlebbar und scheinbar auch das Wesentliche; denn das technische Wie-Umsetzen? interessiert bei der Aufführung kaum einen Zuhörer.

Zuhörer? Nicht wirklich; denn – abgesehen davon, dass viele eher ins Konzert gehen, um zu sehen (und gesehen zu werden), als zu hören – ist an diesem Abend das Sehen ganz eindeutig gefordert. Ob als Kameradirekteinspielung mit Blick auf Heisigs Hände oder als stimmungsvolle rot-blaue Beleuchtung der Bühne oder auch später in Betrachtung von Bildern – Zuhörer allein ist man niemals (wie auch nicht allein Zuschauer). Ich schaue also hin.

Erst einmal aber bin ich skeptisch, was die rein instrumentale Aufführung von Relâche angeht. Denn diese Begleitmusik (im wahrsten Sinne des Wortes) zu einem dadaistischen Ballett ist als Kulissen- oder (wie Satie sie selbst nennt) Möbelmusik das genaue Gegenteil einer Konzertsaalfüllung. Im höchsten Sinne ist sie als Klangatmosphäre zu betrachten, und da ihr Haupttenor Jahrmarktsmusik ist – wie soll man sich dazu in Beziehung setzen?

Und so passiert etwas sehr Witziges: In Ermangelung eines passendes Bildes, als Zuschauer der Chance beraubt, die Atmosphäre selbst auszumalen und in ihr zu wandeln, erscheint das Ballett dann doch – in Form schwarzweiß gekleideter, vielgesichtiger, herumfuchtelnder oder sehr ernst schauender Musiker. Die Schweißperlen, die dem Dirigenten übers Gesicht laufen, das Lächeln, das das Gesicht der Flöte verziert, der rotanlaufende Hornist, der gestrenge Beckenspieler, sie alle tanzen in der cartoonhaften Umkleidung von Saties Musik ein unfreiwillig komisches Theater, unterbrochen nur von dem dadaistischen, unsinnig sinnstiftenden Film Entr’acte und gekrönt von den alteingesessenen Präsentations- und Verbeug- und Auf-und-Nieder-Bewegungen des Ensembles. Wir bezeugen unser Lob.

In vollster Konsequenz umgekehrt führt Schleiermacher die Sports & Divertissements auf. Mit spitzbübischer Spitzfindigkeit umgeht er das Verbot Saties, die zur Musik geschriebenen Stories zu verlesen, und zeigt die zugehörigen Bilder an der Leinwand, wodurch sich das Stück (fast) in seinen gemeinten Umrissen (nämlich abgesehen davon, dass es für die direkte Interaktion zwischen Spieler und Notenbildtext und nichts weiter gedacht ist) als multimediales Spektakel überbordender Fantasie. Die findige Art Schleiermachers, die Texte zu lesen, die abstrusen Bilder und natürlich die witzelnde Musik sind ungemein lösend und geben eine wunderbar befreite Atmosphäre, in der man erreicht, was sonst mit strenger Miene verboten ist: direkt ausdrücken zu können, was die Musik in einem bewegt. Wir lachen.

Pause. Rausgehen, reingehen, Fragen stellen, Fragen beantworten, rumlaufen, hinsetzen. Weiter.

Auf einem hohen Sockel steht ein großer Flügel und daran sitzt der Schleiermacher, ein wenig beleuchtet. Durch die Dunkelheit im Zu-(,)-raum schallt der Ruf eines Nachtkauzes, wie eine nach Thomas Mann klingende Stimme (ist es aber nicht) verrät. Eine Glocke stimmt mit ein, der Ruf des Kauzes verhallt, dann scheint auf der Bühne ein Licht auf. Messiaen, der ornithologische, kauzige Klangfärber.

Seit ich mich mit Messiaen beschäftigt habe, fürchte ich mich vor ihm; denn ich weiß, was er alles von seinen Zuhörer-schauern erwartet. Ich weiß von den vielen Farben, die man hören soll (und die günstigerweise auch bei allen etwa gleich sind, so sagt er), ich weiß von den vielen Obertönen, die er hört und von denen man wenigstens einige hören sollte, ich weiß auch von einigen Kompositionstechniken und von seiner Vogelliebe und so weiter.

Es hilft ein wenig. Wenn ich den Nachtkauz in tiefsten Klaviertönen grummeln höre, kann ich an Messiaen, den Maler, denken und sehe die Nacht. Wenn ich froh bin, in den immer wieder abfallenden Intervallen den Auf-Ab-Ruf des Kauzes zu erkennen und doch nichts weiter von ihm entdecke, kann ich an Messiaen, den Orgelspieler, denken und abstrahiere vom Klang des Klaviers.

Zugegeben, ich versuche es. Denn ein Klavierton ist ein Klavierton, so sehr ich auch weiß, dass ein Komponist für Orgel, die ihren Klang immer wieder neu konstituiert, auch den Klang eines Klavier immer wieder neu konstituiert. Ich scheue die Konsequenz, mich von bekannten Assoziationen zu lösen.
Aber auch dieser Ruf verhallt, und wir spenden Beifall.

Wer kennt Sergej Zagny? Er ist Komponist und lebt in Moskau, soviel (und nicht mehr) kann Schleiermacher von der Klaviersonate verraten. Reicht das? Mir hat es gereicht. Und das nicht nur einmal.

Die Sonate verspricht spannend zu werden. Schon in der ersten Sequenz, die sich in immer gleicher Akkordfortspinnung von den tiefsten Registern des Klaviers bis zu den höchsten dahinwalzt, steckt die ganze Dynamik des Stückes. Ton vor, Akkord nach, Ton vor, Akkord nach, wie eine Raupe, die ihren Kopf vorsetzt und den restlichen Körper nachzieht. Und dazu eine aufregende, gleichrhythmische Walzerbegleitung. Oben angekommen, ruht sich die Klangraupe ein wenig aus und bewegt sich in gleicher Weise wieder herunter, Kopf vor, Körper nach, Kopf vor, Körper nach. Unten wieder ausruhen, kleiner Wechsel auf der Stelle und wieder hoch bewegt, auch mal ein wenig anders.

Schon höre ich die ersten Lacher im Raum, Schleiermachers ernst-angestrengtes Gesicht scheint den Effekt noch zu verstärken und schon ist sie wieder da, die entspannte Atmosphäre, die das Gesicht nicht in einer Maske hält.

Irgendwann verklingt ein Akkord und eine völlig andere Musik erklingt: vier Akkorde, aufsteigend, von konsonant zu dissonant, und wieder, und wieder, ein paar Töne oder Intervalle dazwischen, und wieder und wieder und wieder. Dann etwas Neues (und wieder und wieder) und so weiter und so… Spätestens beim vierten Teil fängt es an, mich schrecklich zu langweilen. Ich schaue mich um, sehe niedergesenkte Köpfe, unsichere oder Beschäftigung suchende Blicke, mutwillig auf den Pianisten gerichtete Augen, angestrengte Gesichter, die versuchen, den letzten Rest an Interesse oder wenigstens Komik noch zu bewahren.

Plötzlich tritt Monsieur le Pauvre, der ehrwürdige Erik Satie an meine Seite und nickt zufrieden. Wie hatte er doch gesagt? „Seltsame Angelegenheit: gegen die Langeweile kann sich der Zuhörer nicht zur Wehr setzen. Die Langeweile bezwingt ihn“ und „Die Zuhörer lieben die Langeweile“.

Für ihn war die Langeweile etwas, dem man unmöglich entgehen kann, warum sollte man den Zuhörer nicht damit konfrontieren? Noch etwas fällt mir ein: Noch zu Beginn des Konzerts hatte Schleiermacher zitiert „Die Wiederholung ist die Mutter der Weisheit.“ Also: Was mache ich in so einem Fall?

Ich langeweile mich und beginne, mich zu fragen, ob die anderen sich auch langweilen (der alte Konzerteffekt ? wie finden’s wohl die anderen? darf ich das jetzt so und so finden?) Ich schaue sie an und sie langweilen sich. Wie langweilen sie sich? Wie reagieren sie und ich auf Langeweile, auf abgedroschene Phrasen, auf geistige Leere, das ganze Spektrum angesammelter konventioneller Spielfiguren, vermischt mit stumpfsinnig unbeweglichen emotionellen Manifestationen?

Hat jemand das Recht, jemand anderen zu langweilen? Mit Sicherheit, aber der andere hat auch das Recht, deswegen zu gehen. Hat der Künstler das Recht, seine Zuhörer zu langweilen? Mit Sicherheit, aber der Zuhörer hat auch das Recht, deswegen zu gehen. Aber was heißt es für uns, aus einem Konzert zu gehen? Skandal, Missachtung des Künstlers, Verletzung der Aura des Hoheitsvollen, Anklage der Künstler, Konfrontation mit einer unhaltbaren Situation.

Wie verlassen wir das Konzert? Unauffällig oder so auffällig wie möglich? Wenn ein Künstler ganz eindeutig die Absicht hat zu langweilen, muss er auch die Absicht haben, Zuhörer gehen zu lassen, ganz normal den Kreis der Zuhörenden zu durchbrechen. Doch wer durchbricht schon gern den Kreis, allein?

Nein, solange wir nicht die Erlaubnis haben, bleiben wir drinnen und achten mit Adleraugen darauf, dass die archimedische Ehrfurcht vor dem Werk erhalten bleibt. Wir applaudieren: Noli turbare circulos meos! (Zer-)Störe nicht meine Kreise!

Klangrausch

4 Konzerte mit neuer Musik im mdr-Studio am Augustusplatz
Wolfgang Heisig – Die Wut über den verlornen Groschen – mit und ohne Mwst.
(Wolfgang Heisig – phonola)

Erik Satie – Relâche & Entr’acte, Sports & Divertissements
(Steffen Schleiermacher – Klavier, Neues Mendelssohn-Kammerorchester, Gunnar Harms – Dirigent)

Olivier Messiaen – La Chouette Hulotte

Sergej Zagny – Klaviersonate
(Steffen Schleiermacher – Klavier)

3. Konzert am 06.07.2002

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