Literaturdiplom

Ein Sommerfest mit Absolventenlesung gibt Anlass zum Nachdenken, ob die Verquickung von Musik und Literatur für den Inhalt eine konstitutive Bedeutung erlangen kann

Ein schwüler Frühsommerabend im akademischsten Viertel der Stadt. Die Besucher empfängt ein Crescendo von Gitarren-Feedbacks, die von einer Bühne im Garten der alten Gründerzeitvilla herüberziehen, welche das DLL sein eigen nennt. Dabei soll es zunächst doch ein Abend der eher leisen Töne werden. Die diesjährigen Absolventen des DLL lesen aus ihren Abschlussarbeiten, um diese anschließend bei kaltem Buffet und einem Glas Rotkäppchen angemessen zu feiern. Institutsleiter Joseph Haslinger, gleichzeitig spiritus rector des 1995 neubegründeten, renommierten Instituts, heißt die Zuhörer im gut gefüllten Auditorium der Villa willkommen, und hat sogleich eine schlechte Nachricht parat: Frau Ursula Beyer, die langjährige Bibliothekarin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig geht in den Ruhestand. Sie war auch bei Nicht-DLLern, die die Bibliothek am Institut nutzten, sehr beliebt. Von Haslinger als „Verbindungsstück zwischen dem alten und dem neuen Institut“ gewürdigt und mit Abschiedsgeschenken überhäuft, bedankte sich Ursula Beyer bei den Studenten: Sie seien die denkbar besten Leser gewesen.

Acht Lesungen standen zur diesjährigen Absolventenverabschiedung an. Den Beginn machte Katja Oskamp. Sie wurde 1970 in Leipzig geboren, studierte ebd. sowie in Berlin Theaterwissenschaft und Anglistik. Aus ihrem Erzählungsband „Rauchzeichen“ (Diplomarbeit) las sie einen Monolog unter dem Titel „Zigarettenlänge“. Vor einem Toilettenspiegel „unterhält“ sich eine offensichtliche Theaterwissenschafts-Absolventin mit einer Freundin, indem sie sie mit einem Monolog wie mit einem Wassereimer überschüttet. Unterm Zeichen neudeutscher Lebensphilosophie werden dabei ständige Misserfolge und Querstände des Lebens schön geredet und als bewusste Entscheidungen gepriesen. Kein innovatives Stück Literatur, aber äußerst lebendig, witzig und mit viel Schauspieltalent vorgetragen.

Es folgte die unter dem Pseudonym Petra Bern veröffentlichende Autorin Petra Hase. Die 1973 Geborene gehört bereits seit 1995 zum Institut. Zuvor hatte sie in Leipzig Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte studiert. Ihr Diplom machte sie nun mit dem Prosatext „Freiheit der Fliegenden Köpfe“, aus dem sie ein Stück vorlesen ließ (also auch ihre Person hinter einem „Pseudonym“ versteckte). Der Text besteht, soweit man das dem kurzen Stück entnehmen konnte, vorwiegend aus assoziativen Reflexionen. Ausgehend von konkreten Situationen im „provinziellen L.E.“ zerstreuen sich die Erörterungen in unendlicher Vielfalt, streben teils von einander weg, teils verflechten sie sich miteinander. Bei all dem scheint nicht der sachliche Gehalt, sondern die Art und Weise entscheidend zu sein, wie sich die Gedankengänge nichtlogisch-assoziativ zu dichten poetischen Bildern bündeln.

Als drittes sollte Stefan Müller lesen, von Haus aus Veterinärmediziner. Da er jedoch fehlte, sprang Tobias Hülslit in die Bresche mit einer Reportage, die er ganz zufällig mal eben dabei hatte. Hülslit ist Autor des Romans ?Saga?, der bei Kiepenheuer und Witsch erschienen ist. Dass das Leben oft die besseren Geschichten schreibt, wurde durch Hülslits Reportage über ein „interkulturelles Training“, mit dem Manager auf ihren China-Einsatz vorbereitet werden, einmal mehr suggeriert. Die wunderbare Ironie dieses Textes entsteht durch eine Erzählhaltung, die konsequent lakonisch-deskriptiv bleibt. Absurde Definitionen über den Chinesen an sich werden 1:1 wiedergegeben, ebenso Äußerungen von Managergattinnen, für die es eine unglaubliche Horizonterweiterung darstellt, ihre „Küche in ein fremdes Land verlegen“ zu müssen. Fazit des interkulturellen Events: Chinesen und Deutsche bzw. Asiaten und Europäer sind jeweils „Marsmenschen“ für einander. Doch wer sich auf die fremde Kultur nicht einstellen möchte, dem geht es wie jenem Engländer, der langsam und systematisch gemobbt wurde, „wie ein Frosch, den man auf kleiner Flamme kocht“. Und auch ein schöner Satz über die Heimat blieb im Gedächtnis haften von einem mysteriösen Herrn Wu, der als Chinese in Deutschland lebt und zwischen den Kulturen pendelt: „So schön wie die Heimat in der Erinnerung ist, kann sie niemals werden.“

Es folgte Jan Christophersen, der 1974 in Flensburg geboren wurde. Er studierte ebenfalls in Leipzig Germanistik, Literaturwissenschaft und Geschichte. Er beendete das Studium am DLL mit seinem Roman „Spurensuche“. Daraus las er ein Stück des ersten Teils. Der Reiz des Textes lag in dem Fall darin, dass der Hörer den Kontext nicht kannte. Eventuell geht es ja dem Leser ebenfalls so, da es sich um den Beginn des Romans handelt und er ebenfalls nichts um die Hintergründe des Erzählten weiß. Wie auch immer, an diesem Abend verstand es Christophersen einen Mythos um die Gestalt seines Paul Tamm aufzubauen, der „aus der Gefangenschaft“ zurückkehrt und Grund für das „tiefe warme Glück“ des Ich-Erzählers ist. Dessen hohe Erwartungen an den nun auch für den Hörer immer interessanter werdenden Paul Tamm beruhen auf der Hoffnung, dass dieser „auf jede Frage eine Antwort geben“ wird.

Ebenfalls in den 70ern geboren wurde Miriam Bosse, 1971 in Eutin, Kreis Ostholstein. Sie studierte zunächst Germanistik und Geschichte, später Kulturwissenschaft und Pädagogik und am Tübinger Studio Literatur und Theater. Während ihres (ersten auch abgeschlossenen) Studiums am DLL wurde sie Redakteurin bei der Literaturzeitschrift edit. Ihr Diplom machte sie mit der Erzählung „Wolfsberg“, aus der sie auch vorlas. Darin ergibt sich ein ganzes soziales Beziehungsgeflecht aus den leerlaufenden Reflexionen eines Mädchens, das stumm an der Hand eines Jungen geht und über die Mitglieder ihrer Clique sinniert. Das Ganze intelligent erzählt, mit liebevollem Humor und einer sich naiv gebenden Moralität, die nicht ohne Hintersinn bleibt.

Ihre Kollegin Franziska Gerstenberg, Mitherausgeberin von edit, war die jüngste Autorin des Abends. 1979 in Dresden geboren war das Studium am DLL ihr erstes. Sie beendete es mit dem Erzählungsband „Glückskekse“. Auf einem Ferienbauernhof trifft der Erzähler statt auf die erwarteten spitzen Hühnerschnäbel und die stinkenden Schweine lediglich auf Katzen, Spinnen und schließlich Mariana, die 16jährige Tochter des Hausherrn, die ihn fortan um den Schlaf bringt. Gerstenbergs Beschreibungen sind detailliert, so detailliert, dass man nicht weiß, ob man tatsächlich immer alles wissen möchte. Reizvoll und interessant sind die Einzelheiten, wo sie kontrastreich und widersprüchlich werden, so dass sie ironische Interferenzmuster bilden. Etwa wenn beim Rendezvous in der Scheune Mariana noch beim Auskleiden die Detailfragen für das Mittagessen erörtert.

Aus den 70ern zu den 60ern gings mit den beiden letzten Lesenden. Bettina Crack, Jahrgang 1965, geborene Berlinerin, hat schon eine illustre Biographie vorzuweisen. Regieassistentin und Schauspielerin bei Einar Schleef, Schauspielerin und Regiehospitantin bei Hans Neuenfels, studierte zunächst Geschichte und Germanistik, später Regie, arbeitete als Schauspielerin, Regieassistentin und Regisseurin, bis sie schließlich ab 1998 am DLL studierte. Ihr Diplom erwarb sie mit der Erzählung „Im Sturz“. In dieser Erzählung wird eine komplizierte Mutterbeziehung aus der Sicht eines 10jährigen Mädchens geschildert. Und dies ohne verquaste Konstruktionen, sondern anhand eines alltäglichen Vorgangs, nämlich wie das Mädchen der Mutter ein Taxi bestellt. So gelingt ein relativ einfacher und unverkrampfter Zugriff auf eine schwierige und ernste Problematik.

Eine echte DDR-Biographie hatte schließlich Volker Altwasser vorzuweisen. Elektronikfacharbeiter, Nischenexistenz (?) als Heizer, Matrose bei der NVA und komplikationslose Übernahme durch den „Klassenfeind“ zur Bundesmarine, Fernmeldemonteur und Bürokaufmann nach der Wende (man schlägt sich so durch), und neben all dem: literarische Karriere als Lyrik- und Prosaautor, Mitbegründer einer Literaturzeitschrift, kurz: als Lokalmatador in Greifswald. Nun als Diplomarbeit entstand die Gedichtsammlung „Saudade“. Saudade, so der Autor in seinem ironisch-lakonischen Vorwort, bedeutet im Portugiesischen so etwas wie Heimatstolz und Fernweh zugleich, was Grund genug für geistreiche und poetische Ausführungen ist. Doch am Ende lässt das Schicksal dem Dichters nur die Alternative, „früh zu sterben oder sich in die Prosa zu retten“. Die Gedichte, die Altwasser dann las, wechselten zwischen kurzen, schroffen Texten und seltsam pathetischen, die mit brutalen mythischen Anspielungen durchsetzt waren. Wie souverän Altwasser seine Sprache handhabt, zeigte sich einerseits an interessanten poetischen Bildern und an stilistischen Brüchen, z. B. dort, wo Pathos urplötzlich einem bissigen Humor weichen musste.

Anna Kaleri schließlich, als Autorin des Leipzig-Almanach ein Begriff, erschien aufgrund einer Erkrankung an diesem Abend bedauerlicherweise nicht, um aus ihrer Diplomarbeit vorzulesen. Obgleich dies die Mehrzahl der inzwischen hungrig und durstig gewordenen Literaten nicht weiter zu stören schien: zielstrebig eilte man auf das Büffet zu und tat sich an Salaten, Bier, Wein und Sekt gütlich. Fortan galt es im Garten des Instituts den schrägen Klängen der eigens engagierten Band zu lauschen, die fortwährend Klassiker der Popmusik in Punk-Versionen zum Besten gab und dabei mit dem Mut zur großen Geste vor sich hin dilettierte. Nach ihrer Bearbeitung des Lennon/McCartney-Klassikers „Come together“ machten sich Rezensenten leicht ernüchtert auf den Heimweg. Da auch bei den Lesungen trotz durchaus interessanter Ansätze keine außergewöhnliche individuelle Charakteristik hervorgetreten war, blieb an diesem Abend genug Zeit zu grübeln, inwieweit die „Verpackung“ in Musik und Literatur für den Inhalt eine konstitutive Bedeutung erlangen kann.

11. Juli 2002, Deutsches Literaturinstitut Leipzig (DLL)

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