David Timm beim XVI. Internationales Orgelfestival Tallinn/Estland
Während des seit 1987 bestehenden Internationalen Orgelfestivals in der estnischen Hauptstadt Tallinn, etwa 80 km südlich über dem finnischen Meerbusen, erklingen nicht nur Tallinner Kirchenorgeln. Das mittlerweile XVI. Orgelfestival mit Interpreten aus Deutschland, Estland, Frankreich, Italien, Monaco und der Schweiz macht die Konzertbesucher mit Kirchen und Orgeln in ganz Estland bekannt. Von 28 Konzerten in zehn Tagen finden elf in Tallinn statt, sieben im Badeort Pärnu und neun in kleineren und kleinen Kirchen auf dem Lande. Ähnlich wie der MDR-Musiksommer durch sein Sendegebiet reist, kommt die Musik auch im zukünftigen EU-Land Estland zu den Menschen in die Region. Neben dem Tallinner Orgelfestival gibt es in den Sommermonaten u.a das David-Oistrach-Festival in der „Sommerhauptstadt“ Pärnu, das Festival „Klaaspärlimäng“/“Glasperlenspiel“ mit Musik und Interpreten aus aller Herren Länder, die Kammermusiktage und das Opernfestival in Kuressaare sowie ein Kirchenmusikfestival in Rapla, dessen Konzerte ebenfalls in verschiedenen Kirchen in Estland stattfinden. Dazu weitere Sommerkonzerte und Folklorefestivals an landschaftlich sehr schönen Orten.
Was liegt also näher, als einmal außerhalb Tallinns ein Konzert zu besuchen, noch dazu, wenn der Leipziger Organist, Dirigent und Improvisator David Timm dazu beiträgt, das Orgelfestival mit Improvisationen und vor allem Jazzimprovisation zu bereichern. Schon im vorigen Jahr, als Timm mit dem Leipziger Vokalensemble zu Gast war, hatte er gemeinsam mit dem bekannten estnischen Saxophonisten Lembit Saarsalu etliche Konzerte mit Jazz und Improvisationen gegeben. Beide haben sich im letzten Jahr über den Festivalgründer und Konzertorganisten Andres Uibo kennengelernt. Dieses Jahr bestreiten beide insgesamt acht Konzerte in ganz Estland. An diesem sonnig-warmen Samstag spielen sie zum letzten Mal. Sie sind in der St. Michaeliskirche in Keila, etwa 20 km südwestlich von Tallinn, zu Gast und verführen das Publikum zu wahren Begeisterungsstürmen. Angefangen hatte alles mit dem guten alten Bach. Über eine Orgelsinfonie, auf verschiedene Themen von Bach, beeindruckend improvisiert von David Timm, nähert sich der Abend dann dem Höhepunkt Jazz zu. Aber Bachs Musik geht weder den Musikern, noch den Zuhörern aus dem Sinn und am Ende wird wieder Bach gespielt, diesmal die berühmte d-Moll-Toccata perfekt verjazzt.
Zunächst nun einige Worte zu David Timms Orgelsinfonie. Sie beeindruckt durch ihre formale Geschlossenheit. Ausgehend von den bachschen Themen begibt er sich in romantische Gefilde. Sich öffnende, stets fortschreitende und leuchtende Vorhaltsakkorde treiben die Musik vorwärts. Assoziationen an César Franck, Saint-Saëns oder Franz Liszt tun sich auf. Nie jedoch bricht er aus diesem Stil aus, sondern eröffnet besonders im ersten Satz eine beinahe französische Atmosphäre. Die Augen schließend fühle ich mich plötzlich in die riesigen französischen Kathedralen von Paris oder Rouen versetzt. Das Adagio zeigt einen herrlichen harmonischen Fluss und neben dem Adagiothema kehren dann auch die Klagemotive aus dem ersten Satz wieder. Im Scherzo beginnt Timm die Orgel wie ein Orchester zu behandeln. Sinfonisch-motivische Arbeit, gepaart mit spritziger Virtuosität zeigen sowohl den Organisten, als auch die Orgel in glänzender Spielform. Zur abschließenden Toccata fegt der Improvisator virtuos über Manuale und Pedal. Sie ist harmonisch sehr variabel, beinahe wie auf dem Hochseil, aber Timm findet immer wieder heraus aus den entferntesten Harmonien. Seine Registrierung ist so perfekt, dass man schier aus dem Staunen nicht herauskommt, aber die Registerzüge befinden sich direkt über den beiden Manualen, so dass ein kleiner Handgriff genügt, um die Musik lebendig werden zu lassen. Durch Crescendi und Decrescendi mit Hilfe des romantischen Schwellwerks beginnt die Musik zu atmen und jeder Teil der Improvisation folgt mit einer inneren Logik auf den nächsten, als ob sie notiert wären. Allerdings ist die Improvisation keine Zauberei. Es steckt viel Übung und formale Vorplanung dahinter, so dass sich erst auf dieser technischen Grundlage die Musik frei entfalten kann.
Die kleine Orgel, ursprünglich eine Walcker?Orgel aus dem zweiten Drittel des 19. Jhs., wurde nach dem Ersten Weltkrieg vom Tallinner Orgelbaumeister A. A. Terkmann umgebaut und ist ein besonderes Instrument. „Es ist die erste Orgel der Welt mit pneumatischer Kelgelladentraktur“, so Timm. Sie besticht durch ihre vielfältigen Klangfarben. Weiche Flötenregister und scharfe Oboen- oder Regalzungen schaffen genauso Abwechslung, wie das romantische Schwellwerk und der Jalousieschweller hinter den Prospektpfeifen, die sie für romantische Orgelmusik bestens geeignet machen. Aber nie gerät der Klang an die Schmerzgrenze des Ohres, sondern es überwiegt ein intimer, weicher Klang, der gut zum kleinen Kirchenraum passt. Die Orgel ist vor einigen Jahren restauriert worden, aber man hört bei schnellen Figuren oft sehr starke Manual- und Pedalgeräusche. Ursache hierfür könnte die pneumatische Traktur sein, welche generell technische Unzulänglichkeiten aufweist und heute nicht mehr gebaut wird. Dem vielseitigen Klang kann dies jedoch nichts anhaben.
Der estnische Saxophonist und Komponist Lembit Saarsalu ist ein Profi im Bereich Jazz. Seit den 1960er Jahren spielt er zu Festivals in Estland, Deutschland, Ungarn, Frankreich, den Niederlanden oder in den USA. Auch nach Afrika, Kuba und Russland führten ihn Konzertreisen und er hat mit etlichen Größen des internationalen Jazz, darunter Lionel Hampton und Elvin Stones, konzertiert.
Das Duo Timm-Saarsalu zeigt sich als eine perfekt harmonierende Einheit, besonders deutlich wird dies, wenn der Saxophonist beim sechsten von insgesamt sieben Jazzstücken die Empore verlässt und sich improvisierend ins Kirchenschiff begibt. Saarsalu beherrscht sein Instrument meisterhaft. Feinste Nuancen entlockt er seinen Saxophonen, besonders wenn er auf dem gewundenen Sopransaxophon die höchsten Höhen erklimmt. Ich fühle mich manchmal an John Coltranes exaltierte Spielweise erinnert und verfolge wie gebannt die virtuosesten Figuren. Die kleine Orgel hat klanglich etwas Mühe, den intensiven Solis Saarsalus zu folgen. Sie klingt zunächst sehr zurückgehalten, bis dann Timm die richtige Registrierung findet und ebenbürtigen Swing aus ihr herauszaubert. Sie ächzt und stöhnt nun, so dass der Pfarrer hinterher mehrfach sagen wird, er habe für sie gebetet. Von ruhigem Soul, über Swing bis hin zu Samba ist alles vorhanden, was dem Kenner das Herz höher schlagen lässt. Schlagwerk ist hier völlig fehl am Platz, denn beide erreichen mit Orgel und Saxophon eine perfekte instrumentale Mischung. Da Jazz in der Kirche nicht nur in Estland immer noch relativ ungewöhnlich ist, frage ich Saarsalu später, wie er es denn damit halte. Für ihn sei es kein Problem, Jazz in der Kirche zu spielen. Er meint, mit Blick auf Amerika, dass dort Jazz und Gospel natürlich ihren Platz in der Kirche haben. Auf meine Frage nach der Atmosphäre während ihrer Konzerte meint Saarsalu später, die Atmosphäre und die Reaktionen des Publikums seien überall sehr gut gewesen. Die Leute standen auf und applaudierten rhythmisch. Auch beim heutigen Konzert steigt die Stimmung mit jedem Jazzstück weiter an und nach der verjazzten Bach’schen Toccata ist sie auf einem Höhepunkt, den man in Estland nur noch mit Volksmusik toppen kann. Eine in Estland allseits bekannte, hier mit Bordunen wie eine Dudelsackweise gespielte estnische Tanzweise („Targa rehealune“, „Unter der Tenne des Klugen“) rundet das perfekt austarierte Programm ab und das Publikum applaudiert stehend im Takt.
10. August 2002, Keila Mihkli kirik (St. Michaelikirche zu Keila bei Tallinn)
XVI. Internationales Orgelfestival Tallinn/Estland (2.-11. August 2002)
David Timm (Orgel, Leipzig)
Lembit Saarsalu (Saxophone, Estland)
Werke von Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Orgelimprovisationen
Jazzimprovisationen
Detailliertes Programm:J. S. Bach: Fantasie G-Dur BWV 572David Timm: Improvisation in Form einer Orgelsinfonie
nach Themen von J. S. Bach
I Fantasie
(Regium aus dem ?Musikalischen Opfer? BWV 1079)
II Adagio
(Agnus Dei aus der h-Moll-Messe BWV 232)
III Scherzo
(Fugenthema aus der Orgelfuge a-Moll BWV 534/2
IV Toccata
(Motive aus Toccata und Fuge d-Moll BWV 565
und der Orgelfuge C-Dur BWV 545/2)Sieben Jazzimprovisationen
Kompositionen von L. Saarsalu, U. Naissoo, Jazz-Standarts, Bach verjazzt und bearbeitete estnische Volksmusik
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