Antigone von Jean Anouilh / Sophokles (Dajana Bajkovic)

Theater Bagage, 11.09.2002
Antigone von Jean Anouilh / Sophokles

Regie: Marion Firlus
In den Hauptrollen: Doreen Kähler und Chris Lopatta


Antike Narreteien

Antigone, einer der Klassiker unter den Tragödien, ist und bleibt ein zeitloses Drama, mit dem sich Menschen aller Zeiten ebenso intensiv beschäftigen wie mit der Geschichte von Ödipus. Die Aktualität des Stückes spiegelt sich im Alter des Publikums: Mehrere Schulklassen besuchen das Stück. Das Durchschnittsalter beträgt höchstens 20 Jahre. Die Aufmerksamkeit dieses jungen Publikums während der Aufführung zeugt für ein reges Interesse an der Umsetzung dieses Stoffes, auch wenn dieser vom Lehrplan vorgegeben sein mag.

Was wird modern, was antik gestaltet? Inwieweit folgt das Stück, das im Rahmen des Antike-Projekts aufgeführt wird, der Fassung von Sophokles oder der von Anouilh? Wie will man dem heutigen Zuschauer die Antigone-Thematik nahebringen, ohne dröge zu wirken? Und wie wird der Veranstaltungsort, das Zelt, genutzt?

Die letzte Frage beantwortet sich gleich, wenn man das Zelt betritt: Anstelle der sich anbietenden Möglichkeit, im Zelt ein Amphitheater nachzubilden, zeigt das Bild die Stadt Theben. Zwei hölzerne Falltore zu beiden Seiten der sich in der Mitte des Zeltes befindenden Bühne symbolisieren die Grenzen der Stadt. Der Zuschauer wird durch eines dieser Tore auf die zu beiden Seiten der Bühne höher gelegenen Sitzplätze geleitet und so eingebunden, als ob er selbst Bürger dieser Stadt wäre. Daß Theben – damit auch der Zuschauer – gerade eben einen Krieg erlebt hat, wird durch durcheinandergeworfene Tische deutlich, zwischen denen unbedeckte Rümpfe herumliegen.

Das Stück beginnt: Ein antik gekleideter Chor macht die Entdeckung eines Kofferradios. Nach einigem Ausprobieren – zuerst entdeckt der Chor einen Sender mit Börsennachrichten – erschallt eine furchtbar jaulende E-Gitarre, die das Lied „Sag mir, wo die Blumen sind“ spielt. Gleichzeitig beginnt eine Sirene zu heulen, die Echos eines Maschinengewehrs betäuben den Raum. Der Chor flieht, um zwei gesichtslosen Männern Platz zu machen, die durch ihre mittelalterlichen Narrenkappen, die ihre Soldatenuniformen krönen, clownesk und gleichzeitig koboldhaftig wirken. Es handelt sich um Polyneikos und Eteokles, die pantomimisch unerbittlich gegeneinander kämpfen. – Alles erscheint wie ein Alptraum, bevor das Drama beginnt.

Die Unordnung des Krieges wird von Hofangestellten aufgeräumt, während der Geist des Ödipus‘ mit einer Augenklappe um sie herumhumpelt. Der Chor, jetzt in dunkler moderner Abendgarderobe, gibt einen Überblick über die Vorgeschichte der Figuren dieses Dramas, die um sie herumtanzen. Ein Orakel untermalt diese Szene: Es schreitet in einer an die Steinzeit erinnernde Verkleidung über die Bühne und gibt den jeweilig entsprechenden Orakelspruch von sich, während es Knochen und Federn auf den Boden wirft. Die komische Wirkung, die dieses Gebaren hervorruft, wird durch das Agieren des Chores unterstrichen: Die vier Sänger lassen die tanzenden Familienmitglieder erstarren, wenn sie über sie sprechen; immer wieder springen die Sänger durch das Geschehen und mischen sich vorlaut ein, als ob sie eine närrische, mittelalterliche Gauklergruppe seien, die dem Publikum eine Mär zu Gehör bringt.

Das Narrenhafte, Clowneske ist programmatisch in dieser Aufführung, die der Fassung von Anouilh folgt. Dabei läßt die Regisseurin Marion Firlus ihre Darsteller/innen einen Drahtseilakt zwischen Tragödie und Komödie tanzen, die allein Doreen Kähler bravourös meistert. Ihre Interpretationsweise führt dem Zuschauer eine plastische realitätsnahe Antigone vor: Antigone im Stadium zwischen Kind und Frau; eine ernsthafte Antigone, die jedoch nicht bemüht ist, ihre impulsiven Explosionen zu zügeln; eine Antigone, die das Leben in vollen Zügen auskostet. Eine Antigone, die mit ganzer Kraft liebt, die mit all ihren Sinnen zweifelt, die bis ins Unergründliche hineinreflektiert und die vor allem eines ist – sich selber treu.

„Antigone“, ein Stück, das der Frage nachgeht, ob man ein Narr ist, wenn man an der Grenze zum Erwachsenwerden am kindlichen Glück festhält oder ob man in diesem Fall nicht weiser als alle anderen Erwachsenen ist, die ihr kindliches Glück aufgegeben haben.
Leider, obwohl versucht wird, das Kindliche und das Närrische als ein Grundelement dieser Tragödie zu begründen, behindert gerade die tragikomische Inszenierung die Aufdeckung dieser Frage in ihrer ganzen Bandbreite. Das Stück driftet eher in die Richtung einer Daily-soap-opera mit tragischem Ausgang ab, in der nur die Befriedigung des eigenen Glückstriebs im Vordergrund steht:

„Ich will alles, jetzt und vollkommen. Ich will wissen, was Glück ist,
… ich will wissen, daß das Leben schön ist, sonst will ich sterben.“

Antigones Forderung wird zur einzig tragenden Botschaft. Der Hintergrund dieser Forderung, die Synthese von kindlichem Glück im Erwachsenenstadium, verliert an Kraft, insbesondere weil Chris Lopatta als Kreon durch sein junges Alter wenig überzeugt. Seine Äußerungen verlieren durch den Spagat zwischen Komik und Tragik an Tiefe, so daß der zentrale Konflikt, der in der Auseinandersetzung zwischen ihm und Antigone liegt, geschwächt wird und an Bedeutung verliert. Weder treiben seine Äußerungen Antigones Konflikt voran, noch spitzen sie ihn dramatisch zu. Sie scheinen leider wie Floskeln eines Erwachsenen, der den Forderungen der Jugend nichts entgegenzusetzen weiß.
Diese Wirkung wird durch die Realisierung der Wächter verstärkt, die Kreon unterstellt sind: Zwei dümmliche, clowneske Figuren, die dem König Kreon aus Angst ergeben sind, die aber trotz dieser Furcht ihre Neugier, ihre Schlaumeierei und ihr Denken an den eigenen Vorteil nicht zurückhalten können. Kreons Gestalt hätte wahrscheinlich wieder an Tiefe gewonnen, wenn seine Gefolgschaft ernsthafter dargestellt worden wäre.

Der Versuch, die Tragödie nicht nur durch komische Elemente aufzuhellen und lebendiger zu gestalten, sondern auch das kindlich-Närrische mit einzubeziehen, scheitert spätestens an dieser Stelle. Das Tragische schwankt, wirkt lächerlich und mündet in einer platten Sequenz, in der der Chor nicht nur seiner Schaulustigkeit frönt, sondern auch noch Leichenraub begeht. Antigones ernsthafte Suche nach dem Glück und ihr Verständnis vom Glück erfährt durch die Überladung an komischen Elementen eine Bagatellisierung, die dem Stück von Anouilh nicht gerecht werden kann.

Trotz vieler guter Einfälle und Einschübe – hervorzuheben sind hier vor allem die sehr schön gestalteten Traumsequenzen -, trotz stetig wechselnder Spieltempi und trotz der eindrucksvollen schauspielerischen Leistung von Doreen Kähler, trifft diese mutige Inszenierung nicht den Angelpunkt des Dramas: die Herausstellung des philosophischen Bedeutungszusammenhangs von Kindheit und Glück versus Erwachsensein und verfälschtes Glück.

(Dajana Bajkovic)

Die Einnahmen dieser Aufführung spendete das Theater „Bagage“ den Opfern der Flutwasserkatastrophe.

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