Formenlehre der Ruinen

Oder: von der authentischen Rede. Dzevad Karahasan liest aus seinem Essayband „Das Buch der Gärten“ zugunsten des Wiederaufbaus eines Kinos im bosnischen Travnik

Jeder Leipziger kennt Ruinen. Sie setzen bei so manchem die Erinnerung oder die Phantasie in Gang. Doch welcher Leipziger würde das die „Rede der Ruine“ nennen, und wer käme auf die Idee, die „Poesie der Ruinen“ in Genres zu unterteilen? Es ist Dzevad Karahasan, der an diesem Freitagabend aus seinem „Buch der Gärten“ rezitiert.

Sie kennen Dzevad Karahasan nicht? Das macht nichts, er würde es Ihnen nicht übelnehmen, denn er gehört nicht zu den eitlen Autoren dieser Welt. Zwei Jahre gehörte ich zu seinen Schülern und machte die Erfahrung, daß Karahasan nur dann enttäuscht ist, wenn er als Mensch – nicht als ein Bürger Sarajevos, als Professor der Dramaturgie oder als Literat – auf einen Dialogpartner trifft, der stumm bleibt. Eben von dieser Denkweise war die gestrige Lesung geprägt.

Der Begrüßung durch den Verein Leipzig – Travnik schließt sich der Verleger des neuen Bandes an. Bevor er das Wort dem Autoren selbst überreicht, erläutert er kurz, daß in dem Buch vielfältige Reflexionen auf den Topos ‚Garten‘ enthalten sind, die sowohl aus der Sicht der islamischen als auch der christlichen Weltanschauung angestellt wurden. Karahasan übernimmt nicht sofort das Wort, sondern läßt eine Pause. Unterdessen kommuniziert er pantomimisch mit dem Moderator Dusan Hajduk-Veljkovic, Lektor der hiesigen Universität, ob dieser noch etwas hinzuzufügen habe. Als er eine gestikulierende verneinende Antwort erhält, lacht das Publikum, und er nimmt das Mikrofon.

Als er die Einladung nach Leipzig bekommen habe, habe er sich entschieden, den Essay „Die Liebeskünste der Scheherazade“ vorzutragen, weil er ein mehrheitlich weibliches Publikum erwartet habe. Einer feministischen Freundin, die über den Titel des Essays empört gewesen sei, habe er nur entgegnen können: „Ich als Feminist muß auf diesem Titel bestehen, weil ich für Frauen kämpfe und sie liebe.“ Karahasans Antwort ist so liebevoll offen, daß sie über jeden Zweifel erhaben ist. Er habe sich dann aber doch für einen anderen Essay entschieden, weil ihm aufgefallen sei, daß Leipzig noch immer voller Ruinen ist. Er werde aus diesem Anlaß den Essay „Die Poetik der Ruinen“ vortragen.

Darin geht es um einen Mann, der den Krieg in Sarajevo miterlebt hat. Angesichts der vielen Ruinen, die der Krieg hinterlassen hat, erinnert er sich an die Ruine eines mediterranen Bauernhauses, das er als Kind erforscht hat. Im Gegensatz zu den Ruinen des Kriegs erzeugt die Ruine seiner Kindheit in ihm eine wunderbare Imaginationskraft, und er erkennt, daß es von der Art der Ruine abhängt, welche Wirkung sie auf den Betrachter hat, wieviel sie von ihrer Vergangenheit preisgibt und in welcher Form sie davon erzählt. Drei grundlegende Formen der Ruinen, deren Poesie sich in drei unterschiedliche Genres einteilen läßt, unterscheidet er: 1. die Ruine eines individuellen Hauses, die künstlerische Ruine, die eine ästhetisch kunstvolle Sprache spricht, 2. die Ruinenlandschaft der Stadt, die aus repräsentativen Gebäuden des 19. Jahrhunderts besteht und wie ein archäologischer Garten anmutet, der nur noch chronikhaft über etwas zu berichten vermag und 3. die zeitlosen Ruinen, Gebäude aus Glas und Stahl, die so wenig zu sagen haben, daß sie nur noch pseudohaft sprechen und dadurch eine den Menschen blendende Geschichte erzählen.

Die drei Ruinengenres sind dabei nicht nur bloße Reflexionen auf den jüngsten Krieg auf dem Balkan und Sinnbild für die Zerstörung verschiedenartiger Gebäudeformen. Sie sind auch eine Metapher für den Prozeß der Verfälschung zwischenmenschlicher Kommunikation und damit für den Abbruch der authentischen menschlichen Beziehungsfähigkeit. Nicht der Krieg hat diese Entwicklung in Gang gesetzt, sondern der Mensch selbst als Erbauer der einstigen Gebäudeformen und jetzigen Ruinen. Eine zutiefst pessimistische Erkenntnis. Der Mensch hat sich durch sein Streben nach dem Fortschritt so weit von sich selbst entfernt hat, daß er sich zu einem kommunikations- und beziehungsunfähigen, ja barbarischen Wesen verwandelt hat. Offen bleibt die Frage, ob der Krieg eine logische Konsequenz dieses Prozesses ist.

Karahasans Essay beeindruckt die knapp 30 Zuhörer wegen seiner philosophischen Tiefe, die in eine leicht verständliche emotionale Sprache gekleidet ist, und durch die lebendige Art des Vortrags. Schon deshalb schließt sich eine rege Diskussion an. „Gibt es überhaupt eine Rede der Ruine?“ „Wenn ja, welche Bedeutung kommt dieser Rede zu, kann sie sich verändern?“ „Inwieweit wird diese vom Zuhörer geprägt oder prägt sie – umgekehrt – den Zuhörer?“ Herr Karahasan gibt keine konkreten Antworten, sondern spricht über ein Kommunikationsmodell, das nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Gegenstand funktionieren kann. Kommunikation sei nicht meßbar, ihr Merkmal sei, daß sie frei und individuell sei wie das Leben selbst. Je individueller die Kommunikationspartner, desto gehaltvoller und künstlerischer ihre Kommunikation bzw. je genereller und damit vorhersehbarer die Gesprächspartner, desto künstlicher und unechter ihre Kommunikation.

Daß die Kommunikation zwischen dem Autor und dem Publikum immer wieder durch den Verleger gestört wird, der sich nicht nur zu profilieren versucht, sondern auch dilettantische literaturtheoretische bzw. am Verkauf des Buches interessierte Fragen stellt, tut der regen Diskussion keinen Abbruch. Sie mündet in die Frage: „Geht angesichts der vielen, austauschbaren glatten Gebäude aus Glas und Stahl, die der moderne Mensch baut, die individuelle, authentische Kommunikation und damit die Poesie der Rede verloren?“

Nachdem der Moderator äußert, daß er im Gegensatz zu dem Essayband, der ihm zu kopflastig gewesen sei, von Karahasans Roman „Schahrijas Ring“ zu Tränen gerührt gewesen sei, wird die Lesung durch die Rezitation des letzten Briefes aus dem Roman beendet. Der Abend selbst endet später im Cafe der Schaubühne Lindenfels mit Fragen zu dem Essay. Wie sehr Karahasan an dem Gespräch mit Zuhörern und Lesern gelegen ist, beweist seine Anwesenheit in dieser Runde und seine wiederholte Aufforderung: „Bitte, polemisieren Sie miteinander!“

Lesung von Dzevad Karahasan aus seinem Essayband Das Buch der Gärten
Benefizveranstaltung zugunsten des Wiederaufbaus eines Kinos in Travnik (Bosnien)
13.09.2002, Schaubühne Lindenfels

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