Die „Kunst der Fuge“ und die Kunst ihres Vortrags

Rudolf Scheidegger spielt Bach in der Orgelstunde im Gewandhaus

Bachs Spätwerk „Kunst der Fuge“ gilt in der traditionellen Vorstellung als eines seiner letzten Werke. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern man die erste oder zweite Auflage des Originaldrucks, die wahrscheinlich 1751 und 1752 erschienen sind, meint. Mit beiden Fassungen hat Bach sich offensichtlich bis an sein Lebensende beschäftigt. Daneben existiert ein autographes Manuskript, von dem man annimmt, dass es Anfang der vierziger Jahre entstanden ist. Es enthält zwölf Fugen und zwei Kanons. Bei dieser Fassung handelt es sich um die sogenannte „Frühfassung“. Christoph Wolff gab sie (erstmalig!) 1987 heraus.

Nachdem Bach 1742 eine Reinschrift dieser Fassung angefertigt hatte (was ein guter Grund dafür ist, sie als ein in sich geschlossenes eigenes Werk zu betrachten), revidierte er später bestehende Sätze dieser Fassung, erweiterte das Werk um je zwei Fugen und Kanons und veränderte seine ursprüngliche Werkkonzeption. Das Ergebnis sind die beiden zuvor erwähnten Originaldrucke. Somit sind beide Hauptquellen letztlich nicht nur zeitlich voneinander zu trennen, sondern überliefern auch zwei verschiedene Fassungen.

Bis heute ist man sich über die instrumentale Besetzung des Werks unsicher. Rückblickend kann man sagen, dass es bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts unangefochten als Klavierwerk galt. Heute werden zusätzliche Besetzungen in Erwägung gezogen und in die Praxis umgesetzt, z. B. mit Orgel, Cembalo oder mit Streichern. Allerdings war die „Kunst der Fuge“ mehr als eine Art praktisches Lehrbuch zum Studium bestimmt, und man dachte weniger an einen öffentlichen Vortrag. Wie ist es nun möglich, eine Aufeinanderfolge von 14 kurzen, meist 3 – 5minütigen Sätzen vorzutragen, ohne dass der Hörer ermüdet oder es ihn schlicht überfordert? Eine Stunde lang polyphone Musik zu hören, könnte gewiss die Grenze der Zumutbarkeit überschreiten.

In der Praxis ist es längst üblich, die „Kunst der Fuge“ in unterschiedlicher Besetzung vorzutragen (zum Beispiel erste Stimme Oboe, zweite Stimme Geige, dritte Stimme Fagott usw.), und das sicherlich nicht zuletzt, um die Aufmerksamkeit des Hörers durch Abwechslung zu bewahren. Besucher solch einer Aufführung klagen jedoch manchmal über einen akustischen Zerfall der Musik. Ich selbst denke, dass die „Kunst der Fuge“ dieser Effekte nicht bedarf. Der homogene Klang hat seinen eigenen sehr reizvollen Ausdruck und ist vor allem eine große Herausforderung für den Hörer, der die Stimmentrennung abstrakt im Kopf herauszuhören versucht. Dabei tritt aber das Problem zutage, dass der Hörer plötzlich schuld ist, wenn die Aufführung nicht gelingt, und der Interpret zur Passivität gezwungen wird. Ganz so soll es sicher auch nicht sein, obwohl auf jeden Fall ein besonderes Interesse und die Bereitschaft wirklichen Hinhörens bei diesem Stück gefordert sind. Aber viele Wege führen nach Rom. Eine wechselnde Besetzung würde Abwechslung bringen und das Hörerlebnis in gewisser Weise etwas einfacher machen, weil die Stimmen fast wie mit einem Fingerzeig herausgearbeitet werden. Wie hat nun Scheidegger dieses Problem gelöst, der ja den Wolf nicht im Schafsfell präsentierte?

Die Reihenfolge der Sätze in Scheideggers Aufführung wich von der im autographen Manuskript ab. Zudem hat Scheidegger zwei Fugen komplett weggelassen, sonst wäre sicherlich auch die Benennung „Orgelstunde“ in ihrer zeitlichen Bemessenheit in Frage gestellt. Er begann mit den ersten drei Fugen in der Reihenfolge Contrapunctus 1 als Eingangsstück, Contrapunctus 3 und 2, es folgte der Canon alla Ottava, danach fuhr Scheidegger nach gleichem Prinzip fort: Es folgten wieder drei Fugen, Contrapunctus 5, 9 und 6, danach der Canon per Augmentationem in Contrario Motu. Den Abschluss bildeten die beiden Tripelfugen, Contrapunctus 8 und 11. Durch diese ausgetüftelte Struktur, die Kanons in die Fugenreihung einzubetten, war Abwechslung und Auflockerung geboten. Beide Kanons, ganz besonders der letztere, verlieren ziemlich bald ihre konstruktiven Elemente und es wird vielmehr ein melodisches Gebilde hörbar, welches als solches eine starke Wirkung entfaltet, und das nicht zuletzt durch das Umfeld der streng kontrapunktischen Fugen.

Die intelligente Programmplanung einmal außer Acht lassend, war es aber recht schade, dass Scheidegger es oftmals innerhalb gleichtaktiger Linien mit dem Tempo nicht allzu genau nahm und sehr eigenwillig artikulierte, womit er leider das wunderbare Fließen unterbrach. Dieses war auch festzustellen, als er innerhalb der Fugen neu einsetzte – vielleicht um ihre Konstruktion kenntlich zu machen? – was einerseits sehr reizvoll ist, weil es dem Hörer in gewisser Weise entgegenkommt, aber auch eben den Nachteil in sich birgt, den Fluss zu unterbrechen.

Die beiden abschließenden Tripelfugen nehmen zum ersten Mal neue Themen auf, womit Scheidegger der Gefahr einer Abnützung der Themen geschickt aus dem Wege gegangen ist. Dass die Auswahl der letzten Fuge auf die der Nummer 11 fiel, war klug gelöst. Durch ihre stark chromatische Prägung, worauf die Fuge 8 bereits einen Vorgeschmack gab, war ein Höhepunkt geboten, der das gesamte Werk zu einem krönenden Abschluss brachte.

Danach war der Beifall groß. Nach einem bescheidenen „Wenn sie noch mögen…“ trug Scheidegger als Zugabe den sich in Achtelläufen recht verschwenderisch zeigenden Canon alla Duodecima vor. Er beginnt mit einem Sextolenschwung, der den gesamten Kanon prägt und innerhalb der „Kunst der Fuge“ einmalig ist. Auf diese Weise präsentierte Scheidegger dem Besucher zum Ausklang noch etwas ganz Neues.

Orgelstunde

Johann Sebastian Bach: Kunst der Fuge (Frühfassung)
Rudolf Scheidegger, Orgel

28.09.2002, Gewandhaus, Großer Saal

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