Geschichten aus dem Schattenreich

Richard Pietraß schreibt Gedichte wie Erzählungen

Wer die Buchpremiere des Gedichtbandes Schattenwirtschaft von Richard Pietraß am Freitag, dem 13.9.2002, im Haus des Buches besucht hat, lernte neben dem Lyriker vor allem den Geschichtenerzähler Pietraß kennen. Bevor der Autor ein Gedicht vortrug, erzählte er von seiner Entstehung, von Begegnungen mit Menschen und Orten. Die Hingabe des Steinmetzen Carlo Wloch, der mit großer Sorgfalt den passenden Grabstein für Pietraß‘ verstorbene Frau aussuchte, findet ihren Dank im Metzlied. Der Stadt Sarajewo, deren Parks zu Friedhöfen umfunktioniert wurden, setzt Pietraß in dem Gedicht Olympiastadion Sarajewo ein Denkmal. Dort könnte der Hürdenlauf nur noch über Grabsteine hinweg stattfinden.

Die Vergänglichkeit und der Tod werden insgeheim zum Zentrum der Gedichte. Umso wohltuender war der lebendige Vortrag von Pietraß, seine geradezu barocke Freudigkeit über die Welt, in der die Kontraste so nah beisammen liegen. Aus dem Autor spricht eine Gelassenheit, die den Verlag Faber & Faber vermuten lässt, der Gedichtband Schattenwirtschaft könnte das Alterswerk des Autors einläuten. Wenn man sich auf die Gedichte im letzten Kapitel des Bandes beschränkt, ist man versucht, dem Verlag in dieser Meinung zuzustimmen. Wohl mit Absicht rollte auch der Autor bei seiner Buchpremiere den Gedichtband von hinten auf und beschränkte sich mit wenigen Ausnahmen auf den letzten Teil. Das Buch in seiner Gesamtheit macht jedoch keinen durchgehend schlüssigen Eindruck, auch der rote Faden Vergänglichkeit scheint an manchen Stellen abzureißen.

Im ersten Kapitel Vorabend begegnen wir Gedichten aus der Zeit vor der Wende, in ihnen wird ein historischer wie auch privater Vorabend eines Mannes in seiner Midlife-Crisis beschrieben. Gerade das Titelgedicht Der Vorabend überrascht durch seinen flapsigen Inhalt: „Die Finger wollen nicht zum Boden./ Nach einem Ritt sind leer die Hoden.“ Nun ja, um den roten Faden herbeizuzitieren, auch Manneskraft und Beweglichkeit sind eben vergänglich…

Weitaus stärker ist das nächste Kapitel „Randlage“ mit Gedichten Anfang der 90er. Hier spürt man Wut über die Ausnutzung menschlicher Naivität und Kritik an der Kommerzialisierung zwischenmenschlicher Beziehungen. „Ellenbogen/ vermessen das Land“ heißt es da, „Wohin ich Habnicht sehe/ Sieht mich das Ende an./ Ich stehe und verstehe./ Wende sich, wer kann.“ Das Land liegt brach, Gärten verwildern, „Schröpfköpfe allerorten“.

In die Mitte des Bandes hat Richard Pietraß ganz bewusst den Zyklus „Letzte Gestalt“ gebettet, den er seiner verstorbenen Frau Erika gewidmet hat. Hier zeigt sich der Autor von seiner zerbrechlichen Seite als Beobachter eines Verlöschens. Die Texte sind wenige Monate nach dem Tod seiner Frau entstanden, es war ihm unmöglich zu schreiben, während er die Todkranke pflegte. Die meisten dieser Gedichte tragen keine Überschrift, es sind kurze Abschiede in mehreren Schüben, häufig an einem Ding festgemacht, „Dein Schal“, „Die Briefe, die ich dir geschrieben“, „Die Fotos, die dich zeigen“.

Als Kontrast folgt das Kapitel „Wandelstern“, in dem ein witziger, ironischer Tonfall vorherrscht. Mit dem letzten Kapitel „Sandweg“ greift Pietraß wieder kraftvoll den roten Faden Vergänglichkeit auf. Die gesprengte Brücke von Mostar wird für Pietraß zu einem starken Symbol für einen Mann, „der die Brücke zum Leben/ abgebrochen hat“. Wohltuend in diesem letzten Kapitel des Bandes ist auch, dass der Autor weitgehend auf Reime verzichtet. Ohne einen latenten Reimzwang, der in einigen Texten zu spüren ist, entstehen ausdrucksstarke Bilder wie in dem letzten Gedicht, das dem ganzen Band den Namen gab, „Schattenwirtschaft“. Pietraß prangert darin nicht nur die zunehmende Zerstörung der Lebens- sondern auch der Todesräume an: „Ich sah den Arbeiter des Todes, kühl/ an einen Baum gelehnt. Zwischen seinen schmalen/ Lippen die Ewigkeit einer Zigarette.“

In den ungereimten Gedichten begegnen wir noch stärker dem Geschichtenerzähler Pietraß, der auf die Kraft der Bilder vertraut und bei seiner Lesung mindestens so sehr überzeugte wie der Lyriker. Man darf gespannt sein auf Pietraß‘ nächste Veröffentlichung. Vielleicht ist es ja Prosa.

Richard Pietraß: Schattenwirtschaft
Verlag Faber & Faber
Leipzig 2002, 16,50 €

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