Begeisterndes Konzert auf Weltklasseniveau

Konzert zum Internationalen Tag der Musik in Tallinn

Langsam verlischt das Licht der riesigen Kronleuchter im 1913 erbauten Jugendstilkonzertsaal „Estonia“, es wird still. Gleich darauf öffnet sich die kleine Tür an der Bühnen-Innenseite und heraus tritt im Lichte der Scheinwerfer der mit Spannung erwartete Gastdirigent En Shao aus China. Er bahnt sich seinen Weg durch die Musiker und betritt das Dirigentenpult. Voller Energie geladen hebt er den Stab und die ersten Figuren der „Semiramide“-Ouvertüre von Rossini füllen die Stille des Saales. Perfekt aufgebaute Spannungsbögen – die Ouvertüre ist bestens geeignet zur Präsentation des Könnens der einzelnen Stimmgruppen – lassen die Musik lebendig atmen. Die Spannung wächst und entlädt sich dann in einem rauschenden Schluss Rossinischer Opernmusik. En Shao lächelt und nimmt den ersten Beifall entspannt entgegen.

Zuvor hatte der Rektor der Estnischen Musikakademie mit einer kurzen Ansprache den Jahrespreis des Estnischen Musikrates für die bedeutendsten Leistungen bei der Pflege der klassischen und speziell der estnischen Musik an das estnische Klassikaraadio übergeben. Man kann diesen Radiosender durchaus mit MDR-Kultur vergleichen, dessen Aufgabe es ebenfalls ist, die landläufig als Klassik bezeichnete „ernste Musik“ zu pflegen, gleichfalls jedoch die Musik der eigenen Region Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zu dokumentieren. Somit bedeutet der Internationale Tag der Musik am 1. Oktober, ins Leben gerufen 1975 von keinem geringeren als dem damaligen Präsidenten des Internationalen Musikrates (IMC) Sir Yehudi Menuhin, für die Esten zusätzlich die Ehrung der eigenen Persönlichkeiten oder Kulturinstitute. Und am heutigen Tag die Preisverleihung an eine der wichtigsten Institutionen zur Bewahrung der estnischen Musik. Dazu hat man alles nur Mögliche getan, damit dieser Tag mit internationalen Gästen von Weltruf und internationaler Musik gebührend begangen werden kann. Sowohl der Präsident der Estnischen Republik mit seiner Frau, die im übrigen eine sehr bekannte Volksmusikforscherin und Wissenschaftlerin ihres Landes ist, als auch der Botschafter der Republik China sind Gäste des Konzerts. Viele Chinesen sind gekommen, um ihren Landsmann dirigieren zu sehen. En Shao ist von Kindesbeinen an mit der Musik verwurzelt. Seit 1988 lebt er in Großbritannien, wo er schon die bekanntesten Orchester der Britischen Inseln geleitet hat. 1989 gewann er den Internationalen Dirigentenwettbewerb des Ungarischen Fernsehens, der ihm weitere internationale Verpflichtungen als Dirigent eingebrachte. Auch in seiner Heimat ist er inzwischen tätig. In Estland hat er schon 1999 das Staatsorchester dirigiert, ist hier also kein völlig Unbekannter mehr.

Der zweite hochkarätige Gast ist der französische Pianist, Gewinner des Messiaen-Wettbwerbs 1973 und Solopianist des berühmten Ensembles InterContemporain, Pierre-Laurent Aimard. Er ist einer der wichtigsten Interpreten für die Musik des 20. Jhs. und arbeitet u.a. mit an einer Dokumentarserie über die bedeutendsten Komponisten des vergangenen Jhs. im französisch-deutschen Fernsehsender Arte. Auch Aimard hat schon in Estland konzertiert (1998).

Mit Aimard am Flügel erklingt nun die „Burleske“ für Klavier und Orchester (1885/86) des seinerzeit 21jährigen Richard Strauss. Auch hier treibt En Shao die Musiker des ERSO zu Höchstleistungen. Im Zusammenspiel mit dem Orchester entlockt Aimard dem Steinway alle nur möglichen Nuancen und Farben. Mit bewundernswerter Leichtigkeit perlen die virtuosesten Läufe aus dem Instrument – auch das Orchester steht dem in keiner Weise nach. Wunderbare Melodien und spätromantische Harmonik lassen dabei schon richtig die Kunst des reifen Komponisten vorausahnen.

Eine echte Überraschung werden die „Zwei Stücke im Stil der Volksmusik aus Sabei“ des chinesischen Komponisten An-Lun Huang. Dieser studierte in den 1980er Jahren in Toronto, später in London und an der Yale Universität in Amerika. In Kanada lebt er heute. Seine Musik nimmt Anregungen aus der Volksmusik seiner Heimat auf und speziell die sprunghaften Melodien einer Region im Norden der Großen Mauer („Sai“ bedeutet Große Mauer, „Bei“ heißt Norden). Das erste Stück „Morgenlied in den Bergen“ beginnt sanft in den hohen Streichern, die aus Flageolett-Tönen aufgebaute Akkorde als Basis für wunderbar lange Melodien einzelner Soloinstrumente bilden. Die bekannte und oft erwartete Pentatonik ist hier sehr versteckt, so dass die Musik oft an europäische Nationalromantik erinnert. Trotzdem ist die chinesische Herkunft, besonders in der rhythmischen Gestaltung, unverkennbar. An-Lun lässt einen wunderbaren morgendlichen Sonnenaufgang vor dem inneren Auge erstehen, er zieht für mich den Spannungsbogen bis zum Erscheinen der Sonne in ihrer vollen Pracht ähnlich meisterhaft, wie dies z.B. Debussy in „La Mer“, Vincent d`Indy in „Jour d`été – la montagne“ oder auch der Este Heino Eller in seinem symphonischen Poem „Koit“/“Morgenröte“ vermögen. Das zweite Stück ist ein rhythmisch-motorischer Tanz („Saibei Tanz“), der mit seiner wunderbaren Frische ein pulsierendes Landleben vor das innere Auge projiziert. Zu Beginn und im letzten Drittel des Stückes überrascht ein an Bizets „Carmen“ erinnerndes Thema, es zaubert einem ein Lächeln auf die Lippen, denn auch An-Luns Tanz hat etwas von der Vitalität der spanischen „Carmen“-Musik.

Als letztes Werk beschließt Bartóks Orchestersuite zum „Wunderbaren Mandarin“ den Konzertabend. Die 1926 in Köln uraufgeführte erste Orchestrierung und Bühnenfassung von 1924 rief einen Skandal hervor und bedeutete vorerst das Ende der Aufführungen. Das Verbot resultierte jedoch hauptsächlich aus dem allzu deutlich auf die Bühne gebrachten Inhalt. Eine Prostituierte auf der Bühne zu zeigen war Skandal genug, den Mord eines Freiers durch die dazugehörigen Zuhälter zu zeigen war des Abscheulichen zu viel. Die heute aufgeführte Orchestersuite stammt von 1927 und geht inhaltlich nur bis zum Entbrennen der Liebe zwischen dem Mädchen und dem exotischen Mandarin. Der grausame Schluss ist ausgespart. Im Übrigen hat die estnische Nationaloper den „Mandarin“ sowohl 1968 als auch 1996 in vollständiger Fassung als Pantomime auf seinen Bühnen gezeigt.

En Shao und das ERSO bauen sogleich die durch Dissonanzen und mit viel Schlagwerk naturalistisch klingende Atmosphäre einer pulsierenden Großstadt auf, in der sich die Ereignisse der Pantomime abspielen. Mit höchster Konzentration und auswendig dirigiert En Shao diese voll Spannung geladene, beinahe mit Händen greifbare musikalische Darstellung einer Tragödie. Alles kulminiert in dem Tanz und der entflammenden Liebe zwischen den Hauptdarstellern und das Orchester läuft unter der sicheren und animierenden, zupackenden und mit intensiven Blicken voranpeitschenden Stabführung des Chinesen zu Höchstform auf.

Im rauschenden Abschlussbeifall bedankt sich En Shao sichtlich gerührt bei seinem Orchester und nimmt den wohlverdienten, dieweil zur rhythmischen Ovation gewordenen Applaus dankbar entgegen.


1. Oktober 2002 Tallinn/Estland, Konzertsaal „Estonia“
Konzert zum Internationalen Tag der Musik

Überreichung des Jahrespreis 2002 des Estnischen Musikrates
Preisträger: Klassikaraadio

Eesti Riiklik Sümfooniaorkester (ERSO) / Staatliches Sinfonieorchester Estlands
Solist: Pierre-Laurent Aimard (Frankreich)
Dirigent: En Shao (China)

Werke von:
Gioacchino Rossini
Richard Strauss
An-Lun Huang
Béla Bartók



Detailliertes ProgrammGioacchino Rossini (1792-1868)
Ouvertüre zur Oper „Semiramide“ (1823)Richard Strauss (1864-1949)
Burleske für Klavier und Orchester d-Moll (1885-1886)An-Lun Huang (*1949)
„Zwei Stücke im Stil der Volksmusik aus Sabei“
1. „Morgenlied in den Bergen“ (aus der ersten Saibei-Suite, op. 15 Nr. 1; 1973)
2. „Saibei Tanz“ (aus der zweiten Saibei-Suite, op. 21 Nr. 5; 1975)Béla Bartók (1881-1945)
Musik aus der Pantomime „Der wunderbare Mandarin“/
A csodalatos mandarin, op. 19 (1919/1927)

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