Geräusche, Tanz und Licht

Elektronisch-akustische Musik von jungen estnischen Komponisten: 3. Konzert des Sügisfestival/Herbstfestival 2002 in Tallinn/Estland

Schon seit ein paar Jahren findet in der Estnischen Musikakademie das Herbstfestival der jungen Musiker statt, doch so international wie diesmal waren die Teilnehmer noch nie. Außer den estnischen Komponisten und Interpreten boten ihre Kunst auch die Studenten des Konservatoriums Amsterdam und des College of Music Reykjavik dar.

Das Konzert am 12.10.2002 war der elektronisch-akustischen Musik gewidmet, die seit der Einrichtung des Studios an der Musikakademie 1995 und dank des seit 1996 bestehenden Studiengangs Elektronische Musik in der estnischen Hauptstadt Tallinn unter jungen Komponisten sehr populär geworden ist.

Es wurden Werke von vier jungen estnischen Komponisten aufgeführt: Kairi Kosk, Tauno Aints, Mirjam Tally und Hans-Gunter Lock. Letzterer ist ein Deutscher, der in Leipzig Tonsatz und Komposition sowie anschließend in Tallinn Musikwissenschaft studiert hat und nun als Mitarbeiter des elektronischen Studios der Estnischen Musikakademie tätig ist.

Das erste Stück „Dancing Music“ (2002) von Kairi Kosk begann im verdunkelten Raum mit geheimnisvollen Geräuschen des Fonogramms, während eine barfüßige Tänzerin auf dem Podest saß und mit beiden Händen ihre Kopfhörer festhielt. Sie harrte so eine ganze Minute lang und schien konzentriert einer Musik zu lauschen, die außer ihr keiner hörte. Das Publikum bekam derweil verschiedene Geräusche, wie etwa das Zerknüllen von Papier, zu hören. Langsam begaben sich die Geräuschmacher (sprich Schlagzeuger) nach vorn und die Tänzerin erwachte wie aus dem Schlaf. Es begann eine faszinierende Improvisation und ein Zusammenspiel zwischen zwei Schlagzeugern (Vambola Krigul und Lehari Kaustel) und der Tänzerin (Sandra Annuste), deren Bewegungen den Rhythmus der Musik bestimmten. Große Trommel, Xylophon, Tam-Tam, Tamburin und andere Schlaginstrumente, gespielt nur von zwei Musikern, bildeten den musikalischen Hintergrund, während der Tanz im Mittelpunkt stand. Zum Schluss riss die Tänzerin ihre Kopfhörer vom Kopf und ließ mit ihrem gequälten Gesichtsausdruck erkennen, dass die innere Musik, die sie hörte, aber uns Zuschauern nicht vergönnt wurde, weiter dauern und sie nicht in Ruhe lassen würde. Dies hinterließ einen schizophrenen Eindruck. Schließlich schien sie aber doch die Harmonie oder die Stille gefunden zu haben, denn sie schritt gemessen durch das Publikum bis ans andere Ende des Saals.

Natürlich war der Beifall groß – man war überrascht und beeindruckt von der Tanzimprovisation. Ein bisschen wunderte man sich allenfalls darüber, dass das Fonogramm so eintönig war, indem es die ganze Zeit nur wie ein Radio, das nicht ganz auf der richtigen Welle reguliert ist, leise Geräusche sendete. Doch nach dem Konzert stellte sich heraus, dass ein großes Stück Fonogramm durch eine technische Panne einfach ausgefallen war.

Das zweite Stück von Tauno Aints „Troop“ (2002) für Soloflöte und Live-Elektronik wurde schon im vergangenen Frühling während der estnischen Musiktage aufgeführt, doch in der erneuten Interpretation von Tarmo Johannes war es diesmal völlig ausgereift und bis ins letzte Detail durchdacht. Das abwechslungsreiche Flötenstück war perfekt gespielt und auch elektronisch durch Echo-Effekte geschmackvoll ergänzt. Man staunte über die Doppelnoten, entstanden durch Überblasen, die blitzsauber und sicher zu hören waren. Es ist beeindruckend, welche ungeahnten Klangwelten das einzelne Instrument Flöte mit Unterstützung durch Live-Elektronik hervorbringen kann. Dieses Stück kann durch seine geschlossene Form und die filigranen Ausdrucksmittel ins Flötenrepertoire eingehen.

„Mythos“ von Mirjam Tally brachte drei Kannel-Spielerinnen auf die Bühne, von denen zwei mit langen wallenden blonden Haaren haargenau dem estnischen Mythosbild entsprachen. Die Kannel ist ein urestnisches Instrument, das heutzutage mit seiner chromatischen Seitenordnung auch vielfältige Möglichkeiten zur Interpretation der zeitgenössischen Musik bietet. Im Unterbewusstsein stellt man sich als Este die Kannel-Spielerinnen immer jung und schön und blond vor. Alle drei (Kristi Mühling, Ella Maidre und Ruth Kuhi (Basskannel)) haben gespielt wie die Engel, nur das Fonogramm mit Naturgeräuschen und Vogelstimmen wirkte etwas plakativ. Später erfuhr ich, dass es eigentlich nicht so geplant war. Es handelte sich um ein Stück, das schon im Jahre 2000 entstanden ist, dessen Fonogramm der Komponistin leider abhanden gekommen war, so dass sie bis zum Konzert schnell Ersatz schaffen musste.

Das letzte Stück „Mu kivised snad“ („Meine steinernen Worte“) von Hans-Gunter Lock (2002, UA) beruht auf dem Gedicht einer anonymen Dichtergruppe, in dem die Rede u.a. von verschiedenen Himmelsrichtungen ist. Dieses Stück hatte die größte Besetzung des Konzerts: Es ist komponiert für Mezzo-Sopranstimme (Jane Tiik), Violine (Gerhard Lock), Cello (Ardo Västrik), Posaune (Martti N?u), Flöte (Leonora Palu) sowie Fonogramm und Live-Elektronik. Am elektronischen Mischpult saßen in jedem Stück jeweils die Komponisten selbst. Für die Aufführung musste der Saal gründlich neu eingerichtet werden, Notenständer standen in der Mitte des Saals zwischen den Publikumsreihen und an den vier Seiten, die die vier Himmelsrichtungen symbolisierten.

Der Beginn des Gedichts: „Meine steinernen Worte …“ hatte Hans-Gunter Lock inspiriert, die verschiedenen Geräusche, die beim Fallen der Steine entstehen, elektronisch zu verarbeiten. Das Stück begann beeindruckend mit dem Fonogramm, das das Rollen der Steine wiedergab – zuerst waren es kleinere, später riesige Granitbrocken, die den akustischen Eindruck eines Erdbebens machten. Dazwischen hörte man schnelle elektronische Töne wie Kometen blitzen. Der Komponist hat den Text der Sängerin zerschnitten, um einzelne Silben zu genießen und später auch, um sie elektronisch zu verarbeiten – so begann sie quasi stotternd „Mu ki-ki-ki-ki-ki … vi-sed so-nad…“ Es wurde von den akustischen Instrumenten auf der Geige und dem Cello durch bogentechnische Möglichkeiten (Ricochet) nachgeahmt.

Die elektronischen Musikabschnitte waren sicherlich die professionellsten und die vielfältigsten im ganzen Konzert, mit viel Fantasie und Sachkenntnis gestaltet, was sich auch aus der Tätigkeit des Komponistens als Mitarbeiter im Studio für elektronische Musik erklären lässt. Aber auch die theatralischen Effekte waren für das hiesige Publikum in vieler Hinsicht neu und vielleicht zuerst etwas befremdend. Die Idee, die Stichworte des Gedichts, die Himmelsrichtungen Norden, Süden, Osten und Westen auch räumlich hervorzuheben, indem jedes Instrument in einer dieser Himmelsrichtungen Solo spielte, war beeindruckend. Dazu kamen auch Beleuchtungseffekte, zum Beispiel kam vom Tonband der Text: „Und im Osten geht die Sonne auf“, zu dem gleichzeitig der Geiger, der mit einer aufblitzenden, schnellen Solostelle begann, mit rotem Licht überschwemmt wurde.

Neu war auch, dass ständig Bewegung im Saal herrschte – die Musiker bewegten sich im Raum von einem Ort zum anderen, aber nicht sinnlos, sondern im Zusammenhang mit dem Text. Trotzdem war es auf die Dauer anstrengend, als Zuhörer sich ständig drehen und wenden zu müssen, um zu sehen, wo die Musiker sich nun wieder befinden.

Der mittlere Teil des Stücks wurde vor allem durch die akustischen Instrumente gestaltet, deren Spieler beim Zusammenspiel ein wunderbares Ensemble bildeten. So imponierten dem Publikum z.B. die gemeinsamen Glissandi der Violine und des Cellos, die in einem sauberen Quartabstand genau aufeinander abgestimmt waren. Der Komponist hat dabei die technischen Möglichkeiten jedes einzelnen Instruments sehr professionell ausgenutzt. Auch die Sängerin meisterte ihre komplizierte Partie hervorragend.

Dieser rein instrumentale Abschnitt erstreckte sich ziemlich lang, so dass die Spannung etwas nachließ und man schon ungeduldig darauf wartete, wie das Fonogramm das Ganze zusammenfassen und abschließen würde. Man wurde aber gleich durch neue elektronische Kunstmittel überrascht. Zum Schluss kamen die Steine auf dem Fonogramm wieder ins Rollen, der Ton verfeinerte sich nun aber ständig und stieg in kosmische Höhen, wo er stehen blieb und nach dem dritten Ausruf der Sängerin „Mir ist kalt!“ abgebrochen wurde.

Die Multimedialität (Einbezug von Tanz, Beleuchtung und Bewegung) machte das Konzert zu einem Erlebnis, das einem Theaterbesuch nahekam.

12. Oktober 2002, Kammersaal der Estnischen Musikakademie (EMA) Tallinn/Estland

Konzert zum Sügisfestival/Herbstfestival für zeitgenössische MusikKairi Kosk (1976)
Dancing Music (2002)Tauno Aints (1975)
Troop (2002)Mirjam Tally (1976)
Mythos (2000) I. TeilHans-Gunter Lock (1974)
„Mu kivised snad“/“Meine steinernen Worte“ (2002, UA)

Interpreten: Studenten der Estnischen Musikakademie


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