Spannende Klangwelten verzaubern das Publikum

Internationale Gäste lernen die estnische Zeitgenössische Musik kennen: „Sügisfestival”/„Herbstfestival” für Zeitgenössische Musik 2002, Tallinn/Estland

Was haben die Estnische Musikakademie (EMA) und das ehemalige Mendelssohn`sche Königliche Konservatorium zu Leipzig, außer der Tatsache, dass sie den musikalischen Nachwuchs ausbilden, noch miteinander gemein? Beiden Institutionen wurden im Zweiten Weltkrieg die Hauptgebäude und damit auch wertvolle Bibliotheksbestände und Instrumente zerstört. Die heutige Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ (HMT) konnte bald nach dem Krieg in ihr wiedererrichtetes Gebäude aus den 1890er Jahren zurückkehren, das damalige Konservatorium in Tallinn zog in ein Ausweichquartier an den Stadtrand, das bis 1999 ein ständiger Aufenthaltsort blieb. 1999 konnte dann endlich das seit den 1980er Jahren geplante neue Haus in der Innenstadt vollendet werden und es wurde zugleich mit einem Festival für Zeitgenössische Musik eingeweiht. So wurde das „Sügisfestival“/ „Herbstfestival“ geboren und in diesem Jahr ist dieses Festival zum ersten Mal mit internationalen Gästen und dem bekannten „NYYD“ Ensemble (Nyyd (nüüd) bedeutet „jetzt“ auf Estnisch) hochkarätig besetzt.

Ähnlich wie in Leipzig der langersehnte Neubau des ebenfalls im Krieg zerstörten alten Konzertsaales der Hochschule einen ungeheuren Motivationsschub bei Studenten und Dozenten auslöste, bewirkt das neue Haus der Estnischen Musikakademie eine enorme Dynamik, die in vielen Konzerten, Projekten, Festivals und Wettbewerben ihren Ausdruck findet. Inzwischen hat sich das „Herbstfestival“ zu einem festen Bestandteil des Konzertlebens gemausert. Es fußt auf drei Säulen: Einerseits gibt es Einblicke in das Schaffen der estnischen Kompositionsstudenten – ich verweise hier auf die „Einblicke“- und Examens-Konzerte der HMT, von denen einige im Leipzig-Almanach rezensiert worden sind. Andererseits erklingen Werke von etablierten zeitgenössischen estnischen Komponisten und als dritte Säule hat sich in diesem Jahr die Begegnung mit internationalen Gästen erwiesen, die ihre eigene Musik mitbringen, und somit den Austausch zwischen den jungen Musikern und Komponisten ermöglichen.

So waren Studenten aus Island vom Reykjavik College of Music mit ihrer Dozentin M. Thorkelsdottier gekommen, um die Situation der Zeitgenössischen Musik in Island klingend zu präsentieren. Frau Thorkelsdottier hat u.a. in den USA bei Lejaren Hiller, Morton Feldman und Lukas Foss studiert und organisiert aktiv das isländische Musikleben in ihrer Funktion als Vorsitzende des isländischen Komponistenverbandes.

Aus den Niederlanden, dem Conservatorium van Amsterdam, waren vier Studentinnen mit ihrem Dozenten Frans van Ruth (u.a. Schüler Hans Osieckis) gekommen. Sie boten ein hochprofessionelles Konzert Zeitgenössischer Musik und machten das Publikum bekannt mit Werken italienischer und holländischer Komponisten. Alle Interpretinnen haben bei hochkarätigen Lehrern studiert oder konnten Erfahrungen bei den Darmstädter Ferienkursen oder dem Pablo Casals Festival sammeln. Auch Wettbewerbe wie „Deutscher Musikwettbewerb“oder „Internationaler Krzysztof Penderecki Wettbewerb Zeitgenössischer Musik“ in Krakov konnten von ihnen gewonnen werden. Sabine Wüthrich (Sopran) stammt aus der Schweiz, Susanne Fröhlich (Blockflöteninstrumente) aus Passau, Fie Schouten (Klarinette und Bassklarinette) stammt aus den Niederlanden und Goska Ispording (Cembalo) hat zunächst in Krakov studiert, bevor sie nach Amsterdam ging.

Das Konzert der Amsterdamer beeindruckte zunächst durch die wunderbare Geschlossenheit des ersten Teils, in dem die Werke der italienischen und der niederländischen Komponisten jeweils einen klanglich wesensverwandten Charakter aufwiesen. Bei den ersteren ist es die Art, den Wind (G. Dazzi „S`abriter dans les plis du vent“, Sopran und Klarinette, 1994), beziehungsweise die Seeluft einer „Seascape“ (1994, F. Romelli) musikalisch darzustellen. „Seascape“ wurde dabei ganz allein von einer speziellen Bassblockflöte (Paetzold-Recorder), die nach dem Orgelpfeifenprinzip entwickelt wurde, erzeugt. Obertöne und Blas- und Luftgeräusche oder das Geräusch der Klappen wurden hierbei zu einer bezaubernden Naturbeschreibung.

In den Werken der Niederländer verschmolzen zum einen der Klang eines Phonogramms mit dem des perlenden Cembalos (T. Bruynel, „Cattara“, 1990), zum anderen der der Sopranstimme mit der Blockflöte (K. van Steenhoven, „Nachtzang“) auf fesselnde Weise. Brynels Musik wirkte teils wie Sternenmusik, diejenige von van Steenhoven vereinigte den textlosen Gesang mit dem Klang der Altblockflöte durch häufig quasi unisono geführte und dahinfließende Linien zu einer einzigen Stimme. Der zweite Teil des Konzerts war aus Kontrasten aufgebaut. G. Scelsis Mikrointervalle und verzahnte Linien („Ko-Lho“, Blockflöte und Klarinette, 1960) standen in Kontrast zum motorischen und teils in Wiederholungstechnik komponierten „Urban Myths“ 1999 (Joe Cuttler, Klarinette und Cembalo) und dem überzeugend geschauspielerten „Shopping List of a Poisoner“/“Einkaufszettel eines Giftmischers“, 2000 (L. Andriessen), wobei die Sängerin mit Hilfe eines überdimensionalen Nagels alle ihre Zutaten geräuschaktiv aufs Papier kratzte. Diese nichtendenwollende Geschichte brach dann plötzlich ab, indem die entnervte Interpretin den Saal fluchtartig verließ. Aller Wahrscheinlichkeit nach schien sie ihr ungeheuerliches Planen selbst nicht mehr ertragen zu können. Dieses Stück war eine echte Überraschung, die die Amsterdamer jedoch mit der nun folgenden Musik noch toppen konnten. Ein bekanntes estnisches Volkslied, arrangiert von Wynard van Klaveren, ließ das Publikum erstaunen, noch größer jedoch war die Freude, entdecken zu können, dass die Sängerin den Text in der Originalsprache Estnisch vortrug. Rauschender Applaus beschloss diesen hochprofessionellen und klangsprachlich reichen Musikabend.

Als ein Publikumsmagnet erwies sich einige Stunden zuvor das Konzert mit elektronischer und elektroakustischer Musik und außer den oben schon genannten Verknüpfungspunkte bietet es Gelegenheit, erneut Verbindungen zwischen Tallinn und Leipzig aufzuzeigen. Unter den Werken der jungen estnischen Komponisten erklang auch eine Uraufführung des Leipziger/Tallinner Komponisten Hans-Gunter Lock (*1974), der sein technisches und kompositorisches Rüstzeug eben just an der Leipziger Musikhochschule erworben hat. Spannend hierbei, dass er nicht nur die vielfältigen Möglichkeiten der elektronischen und elektroakkustischen Klangerzeugung überzeugend zu präsentieren wusste, sondern auch die Bewegung der Musik und der Interpreten im Raum sowie Lichtinstallationen bei diesem Konzert eine tragende Rolle spielten.

Zeitgleich zum „Herbstfestival“ fand die „36. Konferenz der Musikwissenschaftler des Baltikums“ statt. Diese Konferenz hat eine lange Tradition. Schon seit 1967 findet sie jährlich abwechselnd in einem der drei Staaten des Baltikums statt und seit Öffnung des Eisernen Vorhangs sind enge Kontakte zur deutschen Musikwissenschaft geknüpft worden. Einer ihrer Mitbegründer, Prof. Dr. Helmut Loos, lehrt am Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig. So gaben sich in den letzten Tagen Musikwissenschaftler und Musiker aus Europa und Amerika in Tallinn quasi die Klinke in die Hand und pflegten ihre Kontakte oder schufen neue Verbindungen.

Das folgende Kammerkonzert Flötenkammermusik mit Werken etablierter estnischer Komponisten wie Kuldar Sink, Raimo Kangro Mati Kuulberg und Lepo Sumera trug nicht nur den Titel „Herbst. Tätigkeit des Windes“, sondern war auch dem 1996 verstorbenen Flötisten Jaan ?un gewidmet, es war zugleich Würdigung der in tragischer Weise in mittleren Jahren zwischen 1995 und 2001 verstorbenen Komponisten Sink, Sumera, Kangro und Kuulberg. Durch ihren raschen Tod hat die estnische Musik beinahe eine ganze Generation von Komponisten mit jeweils ausdrucksstarker und persönlicher zeitgenössischer Musiksprache verloren. Die ebenfalls erklungenen Werke der jüngsten Generation (Age Hirv, *1973 und Kristjan K?rver *1976) standen jedoch mit ihrer jeweils eigenen Klangwelt und der emotionalen Wirkung auf das Publikum den etablierten Klangschöpfern (im Estnischen wird der Komponist „Heli-Looja“, d.h. „Klang-Schöpfer“, genannt) kaum nach.

Das Abschlusskonzert des Festivals war zugleich das Herbstkonzert des „NYYD“ Ensembles mit seinem jungen und Zeitgenössische-Musik-erfahrenen Dirigenten Olari Elts und wurde im estnischen Radio live übertragen. Hier wurden ebenfalls Werke der jüngsten estnischen Generation (Age Hirv, Tatjana Kozlova und Mariliis Valkonen) uraufgeführt sowie Benjamin Brittens (Sinfonietta op.1, 1932) und Tan Duns Musik („Lament.Autumn Wind „, 1993, Solist: Ka Bo Chan) bildeten den Rahmen dessen, was von den 1930er Jahren bis in die 1990er Jahre an kompositionstechnischer Vielfalt entstanden ist. Ganz besonderer Clou des Konzerts waren nicht nur die kamerawirksam ans Revers der schwarzgekleideten „NYYD“/“Jetzt“-Musiker gehefteten bunten Herbstblätter, sondern auch, und zur Überraschung aller Anwesenden weil nicht im Programm vermerkt, den zur Einstimmung vorgetragenen „Herbst“ aus Josef Haydns „Jahreszeiten“ und nach der Pause Tschaikowskis „Herbstlied“ aus dem Zyklus „Oktober“. Auch ein eingeschobenes Solocellostück Jiri Krupickovitchs („Härmatis“/“Rauhreif“) ließ dieses Konzert zu einem spannnenden und mit unvorhersehbarer Musik geschmückten Ereignis herbstlichen Farben- und Klangfarbenreichtums werden.

Estnische Musikakademie/Eesti Muusikaakadeemia, Tallinn (Estland), Kammersaal und Opernstudio

„Sügisfestival“/“Herbstfestival“ 2002, 10.-13. Oktober

6 Konzerte in 4 Tagen
(Detailliertes Programm am Ende des Textes)

Mitwirkende:
Estnische Musikakademie
Reykjavik College of Music (Island)
Conservatorium van Amsterdam (Holland)
„NYYD“ Ensemble unter Olari Elts

Werke von:
jungen estnischen Komponisten
zeitgenössischen etablierten estnischen Komponisten
zeitgenössischen italienischen und niederländischen Komponisten
sowie Scelsi, Tan Dun und Benjamin Britten


Detailliertes Programm 10. Oktober, 19.00 Uhr, Estnische Musikakademie
Malle Maltis (*1977), Ülo Krigul (*1978), Lauri J?eleht (*1974), Piret Rips (*1965), Kristjan K?rver (*1976), Age Hirv (*1973), Taavi Pärtel (*1972)11. Oktober, 19.00 Uhr, Reykjavik College of Music
Konzert mit isländischer Musik 12. Oktober, 14.00 Uhr, Estnische Musikakademie [Link]
Elektronische, elektroakustische Musik, Tanz, Raumklang und Lichtinstallation
Kairi Kosk (*1976), Tauno Aints (*1975)
Mirjam Tally (*1976), Hans-Gunter Lock (*1974)12. Oktober, 19.00 Uhr, Conservatorium van Amsterdam
Gualtiero Dazzi (*1960), Fausto Romitelli (*1963), T. Bruynel, Karel van Steenhoven (*1958), Giacinto Scelsi (1905-1988), Joe Cutler (*1968), Louis Andriessen (*1939) 13. Oktober, 14.00 Uhr, Estnische Musikakademie und Conservatorium van Amsterdam [Link]
Herbst. Tätigkeit des Windes, gewidmet dem Flötisten Jaan ?un (1945-1996)
Kuldar Sink (1942-1995), Raimo Kangro (1949-2001)
Kristjan K?rver, Age Hirv
Mati Kuulberg (1947-2001), Lepo Sumera (1950-2000)13. Oktober, 18.00 Uhr, „NYYD“ Ensemble, Dirigent Olari Elts
Herbstkonzert des „NYYD“ Ensembles
J. Haydn: Einleitung „Herbst“ aus den „Jahreszeiten“ (1801)
Age Hirv: „Relief“ (2002, UA)
Benjamin Britten (1913-1976): Sinfonietta op. 1 (1932)
Tschaikowski (1840-1893): „Herbstlied“ aus dem Zyklus „Oktober“
Tatjana Kozlova (*1977): „Clouds of Sand“ (2002, UA)
Mariliis Valkonen (*1981): „Flight-sight“ (2002, UA)
Tan Dun (*1957): „Lament.Autumn Wind „, 1993, Solist: Ka Bo Chan

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