Was für ne „Spinnerei“

Das zweite Festival für Zeitgenössische Musik des Deutschen Tonkünstler Vereins

Die drei Veranstaltungen des zweiten Spinnereifestivals waren als deutliche Kontrapunkte in der Programmgestaltung gesetzt. Das erste Konzert unterschied sich durch eine sehr konventionelle Handhabung des musikalischen Materials von den beiden folgenden. Der zweite Abend war ausschließlich Uraufführungen gewidmet. In ihnen wurde deutlich, dass Räumlichkeit eine wichtige Komponente in der zeitgenössischen Musik ist.

An dieser Stelle möchte ich über zwei Stücke des dritten Konzerts schreiben, die mir am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben sind. Das Programm des letzten Abends wurde in erster Linie vom „Ava-Ensemble“ (Berlin) gestaltet, das u. a. das Stück „Auge der Zeit“ von Giorgio Colombo Taccani, komponiert nach fünf kurzen Gedichten Paul Celans, aufführte. Die Texte wurden durch die Mezzosopranistin auf eigenartig entrückte, distanzierte Weise gegenüber der übrigen Besetzung (Blockflöte, Violine, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug) gesungen.

„Auge der Zeit“ ist dem Gedichtband „Von Schwelle zu Schwelle“ aus dem Jahr 1955 entnommen. Dieser Titel kündigt, ähnlich wie „Von Dunkel zu Dunkel“, den Verlauf einer Bewegung an, die aber nicht wirklich stattfindet, denn Anfangs- und Endpunkt scheinen in eins zu fallen. Die Zeilen „Nicht kühler wird’s, nicht nächtiger, nicht feuchter“ setzen solches Motiv fort: Es wird der Eindruck erweckt, dass keine Entwicklung mehr stattfindet. Das Wort „Schwelle“ lässt zusätzlich ein Bild des „Verharrens“ entstehen. Etwas, was kommen soll, tritt nicht ein: eine Bewegung, Veränderung, etwas, das von der Vergangenheit erlösen könnte.

Nachdem das zweite Gedicht musikalisch durch eine ruhige, schreitende Bewegung interpretiert wurde, eröffnete das Klavier zum dritten Gedicht mit sehr verhaltenen Tönen. Es lässt viel Raum zwischen den einzelnen Klängen, umklammert das Schweigen, die Stille mehr, als dass es etwas sagt. Auch das Akkordeon setzt sehr zögernd ein, der Klang scheint zurückgehalten. Immer wieder ertönte ein einzelner, spannungsgeladener Ton auf dem Schlagzeug, wie eine Ankündigung ohne Antwort, ohne Einlösung. Die unbeschreibbaren Erlebnisse der „Shoah“ zu vergessen, hieße, sie zunächst erst beschreiben zu können. Paul Celan konnte dies nur durch eine Art Distanz zum benennenden Wort leisten. Jeder seiner Gedanken ist mit der einen, nie direkt ausgesprochenen Erinnerung getränkt. So entzieht sich seine Sprache dem Vergessen und die Vergangenheit bleibt, wie es Jürgen Straub formulierte: „Unverlierbare Zeit“.

Thomas Chr. Heydes Stück „Ensemble für präpariertes Klavier“ wurde solistisch von Eckehard Schubert aufgeführt. Macht man sich den Sinn des Wortes „Ensemble“ einmal bewusst, entsteht ein eigenartiger Widerspruch: einerseits ruft es das Bild von einer Gruppe individueller Teile hervor, andererseits steckt in dem lateinischen Ursprung auch „similis“ – „ähnlich“, was die Betonung eher auf das „Gleiche“ im Ensemble legt.

Das Ganze wird durch die Präparierung einzelner Bereiche in individuelle Stimmen zerteilt. Es entsteht ein „virtuelles“ Ensemble und die sonst eher homogene Klangmasse des Klaviers wird demontiert. Dabei entwickelt sich keine Vielschichtigkeit im Sinne einer Überlagerung und Verschmelzung der einzelnen Klänge, vielmehr grenzen sich die „Spieler des Ensembles“ durch ihre Verfremdung voneinander ab, bleiben autonom. Zunächst irritiert die Klangverschiebung zwischen den präparierten und unpräparierten Bereichen, doch schon bald scheinen die verfremdeten Klänge vertrauter als die bekannten.

Das Klavier wird Schlaginstrument, was eine fremdartige Sperrigkeit hervorbringt. Die Klangbruchstücke werden aneinander geheftet, ohne dass zwischen ihnen wirklich ein durchgehender Rhythmus erscheint. Dieser bleibt noch im Gestus des Interpreten angedeutet, vielleicht um die Bewegungen zwischen den rhythmischen Fragmenten zu vollziehen, vielleicht aber auch als rudimentärer Ausdruck eines fließenden Klangs. Die Verbindungen erscheinen unterbrochen und der Klang wird auf sein absolutes Minimum reduziert. Einzelne Töne und die Räume zwischen ihnen markieren die vergehende Zeit.
Ein „des“ wird über eine lange Sequenz immer wieder von neuem aufgerufen, als insistierte es darauf, gehört zu werden, wird zunehmend stärker angeschlagen und weigert sich doch sogleich zu klingen. Die Präparierung dämpft es extrem, wobei dennoch der Eindruck des Lauten und Starken, hervorgerufen durch den körperlichen Ausdruck des Interpreten, bleibt.

Wieder wird die Hörgewohnheit gebrochen, da die Diskrepanz zwischen der Stärke des Anschlags und der ausbleibenden Wirkung im Hörbaren kaum überbrückt werden kann. Durch diese subtile Verfremdung wird der ursprüngliche Ton aus der Erinnerung hervorgerufen und, indem er fehlt, ins Bewusstsein gerückt. So bleibt der Gestus des Interpreten oft völlig losgelöst von dem durch ihn erzeugten Klang. Diese Trennung lässt den Eindruck entstehen, dass auch er nur einer der „Spieler im Ensemble“ ist.

„SPINNEREI“
2. Festival für Zeitgenössische Musik des Deutschen Tonkünstler Vereins

vom 11.-13. Oktober in der Baumwollspinnerei, Leipzig Plagwitz

Konzert 1: „Entschleierung“

Werke von
Burkhardt Söll [UA], René C. Hirschfeld [UA], Pavel Haas, Christian F.P.Kram, Anat Schachar [UA],
Boris Guckelsberger [UA] und Paul Dessau

„Ensemble Desvelo“
Mareike Schellenberger – Gesang
Bernhard Forster – Oboe/Englisch Horn
Dietmar Schaffer – Viola
Andreas Wehrenfennig – Harfe
Eckehard Schubert – Klavier

Konzert 2: „Uraufführungskonzert“

Uraufführungen von Luca Belcastro, Hubert Hoche, Christian FP Kram,
Stefan Lienenkämper, Johannes Sandberger

Leipziger Saxophonquartett und Gäste

Konzert 3: „Musik des 21. Jahrhunderts“

Werke von Thomas Chr. Heyde, Péter Köszeghy, Steffen Schellhase [UA], Giorgio Taccani [UA]
und Helmut Zapf [UA]
„Ava-Ensemble“, Berlin
Steffen Schellhase – Leitung
Eckehard Schubert – Klavier (a.G.)

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