5. Konzert des „Sügisfestival”/„Herbstfestival” 2002 in Tallinn/Estland
Tätigkeit des Windes. Herbst
Wären es zwei Eimer voll Holz
und zwei Eimer voll Briketts
und dazu zwei Streichholzschachteln voll Feuer
dann bekämen wir soviel Wärme,
und einige Wochen lang könnten wir
alle Bekannten
und alle Kinder unserer Freunde
zu uns nach Hause einladen,
wenn diese keinen Ofen haben,
ihr Haus nicht geheizt wird,
und sie schon Husten haben
und ihre Hände erkaltet sind. Hando Runnel
(ins Deutsche übertragen von Gerhard Lock)
Diese Zeilen des in Estland bekannten und geliebten Dichters Hando Runnel geben die Atmosphäre für ein Konzert wieder, das nicht nur eine Ode an den Herbst, sondern auch die Würdigung vier der wichtigsten zeitgenössischen estnischen Komponisten ist. Darin eingebettet sind zwei hoffnungsvolle junge Komponisten, die die Tradition der Komponisten in Estland nicht abreissen lassen werden.
Aus Kuldar Sinks Zyklus „Jahreszeiten“ von 1991 erklingt zunächst der „Herbstwind“. Die ungewöhnliche Besetzung erfordert Flöte, Harfe, Gitarre und Cello sowie Mezzosopran. Es ist plastische Musik. Die Sängerin spricht oft den Text, dann lacht sie, dann wiederum singt sie einige weiche Töne. Cello und Gitarre vereinigen sich zum Schlagwerk. Akkordische Strukur und teils plagale Kadenzwendungen fügen sich in die gewiss typisch estnische Wiederholungstechnik („korduste tehnika“) ein, um ein schwungvolles musikalisches Bild der vom Herbstwind gezausten Bäume zu entwickeln.
Die drei estnische Volksweisen für Flöte solo von Raimo Kangro stammen ebenfalls aus dem Jahre 1991. Ist die erste noch sehr deutlich als Volksweise zu erkennen und vom Duktus her recht traurig, werden die folgenden lebhafter, durchgearbeiteter und virtuoser. Die zweite ist emotional fröhlich und die dritte erneut traurig, aber ebenfalls wieder sehr emotional.
Die Kannel ist ein uraltes finnougrisches Instrument. Das Besondere an der estnischen Kannel ist ihre hohe Zahl der Saiten und ihre chromatische Stimmung. So hat Kristjan K?rver das uraufgeführte ?Florete flores? für die Besetzung Mezzosopran, Flöte, Cello und Kannel geschrieben. Es ist akkordisch sehr dicht komponiert. Sekundisch verschränkte Linien, Terz- oder Quartaufgänge bilden das strukturelle Material, das sehr gesanglich ist. Im Ohr bleibt zuletzt der schöne Duktus dieser Musik und der motorische Schluss, bei dem der letzte Kannel-Akkord ganz allein verklingt.Age Hirvs „Enesekaotus“/“Selbstverlust“ für Altflöte und Mezzosopran ist eine der interessantesten Kammermusik-Uraufführungen des Festivals. Es beginnt mit einer Rezitation auf einem Ton und die Flöte wird diesen Ton erst sachte, später drängender umspielen. Auch werden flötenspezifische Techniken, wie etwa das Ins-Instrument-Sprechen, an dramaturgisch passenden Stellen eingesetzt. Im Gedächtnis bleibt der gesprochene Satz: „Ma ütlen, uks on liiga kitsas“/“Ich sage, die Tür ist viel zu schmal“. Der Text zentriert sich damit geradezu um dieses im Titel genannte psychische Problem des Selbstzweifels und es bleibt zu spekulieren, ob die Tür zum Herausfinden aus dem Teufelskreis gemeint sei oder etwa die Tür, durch die man tritt, um sich ganz von dieser Welt zu verabschieden. In jedem Falle machen Text und Musik nachdenklich und etwas Besseres kann einem Werk nicht passieren.
Mit fünf Tönen fegt Lepo Sumeras „Scenario“ für Flöte, Bassklarinette und Klavier jede (Selbst)zweifel hinweg – auch diese, dass wir es mit einem der schillernsten estnischen Komponisten der Gegenwart zu tun haben. Ein kräftiges Fünftonmotiv wird in den Raum gestellt, aus dem sich in vielfacher Wiederholung später ein sogenanntes „Klangband“ entwickelt, das sich bis zum Cluster (besonders im Klavier) verdichtet. Durch die schon Eingangs erwähnte Wiederholungstechnik (sich ständig wiederholende Motive) entsteht ein „Klangteppich“, der sich langsam vorwärtsbewegt, sich durch Augmentation ausdünnt oder durch Diminution verdichtet. Unterschiedliche Tempi und Motivlängen verschränken sich ineinander, so wie man es auch bei Sumeras Landsmann Arvo Pärt findet. Auch assoziiere ich spontan die franko-flämische Isorhythmietechnik, die mit ihren verschieden langen Abschnitten Talea (Rhythmusmodell) und Color (Melodiemodell) eine auf Wiederholung gestützte Ordnung in der Zeit darstellt.
Interessant an Sumeras Musik ist, dass sich auch großformatige Strukturen entdecken lassen. Es scheint zunächst eine dreiteilige Form zu sein (Fünftonmotiv zu Beginn, „Klangbänder“/“Klangteppich“ danach und dann die Reprise des Fünftonmotivs), aber es geht spannend weiter. Erneut enwickelt sich aus dem Fünftonmotiv ein „Klangteppich“, der jedoch bald ausgedünnt wird und quasi Löchern bekommt (man erinnere sich an Györgi Ligetis berühmte Klavieretüde mit den durch stummgedrückte Tasten ausgelassenen Tönen innerhalb eines perlenden Ton-Bandes). Alles kulminiert nun in einem Cluster und aus diesem erwächst die nächste Überraschung: Eine kleine Terz erklingt, zunächst sukzessive, aber unisono. Später beginnt sie zu schweben und bekommt ein eigenes Leben. Nun breitet sich auch Akkordik im Klavier aus – Melodienaufbau und eben diese Akkordik erinnern entfernt, auch durch eine gewisse Blockhaftigkeit, an Messiaen. Wenn dann wieder der „Klangteppich“, diesmal stark diminuiert, erscheint, glaubt man, der Schluss würde nun schnell, ähnlich einer Fugato-Coda, kommen, aber Sumera führt ein neuerliches, in sich lebendes Klangband ein, das an diesmal an Aleatorik erinnert. Die gelungene Schluss-Überraschung ist dann aber der reine Dur-Akkord, der metrisch wiederholt und simultan in allen Instrumenten erklingt. Damit endet „Scenario“ und hat die Hörer mit auf eine Reise genommen, deren Ausgang allein dem Komponisten und den Interpreten zuvor bekannt war.
„Für einen Musiker. Kuldar Sink zum Gedenken“ für Soloflöte (1995) von Mati Kuulberg ruft den Grundcharakter des Konzertes erneut ins Gedächtnis zurück. Kuulberg ging ja selbst sechs Jahre später aus diesem Leben – das ist die Tragik dieses Konzerts. Seine Musik ist traurig, macht ebenfalls nachdenklich. Einzelne Töne, zu einem aufsteigenden Motiv geworden, erklingen wie getupft. Die lange Pause am Ende ist wie ein Gedenkmoment.
Zum Abschluss schließt sich der Kreis und Kuldar Sink, dessen 60stem Geburtstag vor einigen Tagen gedacht worden war, erklingt erneut. Diesmal aus dem Zyklus „Jahreszeiten“ das „Schneeflöckchen“. Hier hat Sink auf alte Musik, etwa aus der Vorbarockzeit, reflektiert. Die Gitarre (und klanglich dazugehörig auch die Harfe) verwandelt sich in eine Laute. Schöne Melodien, teils Moll, teils Kirchentonarten klingen im Cello und der Flöte. Die Sängerin flüstert häufig „tasa, tasa“/“still, still“ und der Gesamtklang ist sehr schön orchestral. Ein letztes „tasa, tasa“ bleibt im Raum hängen, nur noch ein „c“ in der Harfe klingt aus…
Damit verklingt dies stimmungsvolle und inhaltsschwere Konzert ? und vielleicht saßen wir ja gerade eben an jenem Kamin, den Hando Runnels Gedicht zu Beginn beschreibt, an dem man in kalten, dunklen Herbstnächten zusammenkommt und verstorbener Freunde gedenkt.
13. Oktober 2002, Estnische Musikakademie Tallinn/Estland, Opernstudio
5. Konzert des „Sügisfestival“/“Herbstfestival“ 2002Herbst. Tätigkeit des Windes.
Estnische Flötenkammermusik
gewidmet dem Flötisten Jaan ?un (1945-1996)
Werke von:
Kuldar Sink (1942-1995), Raimo Kangro (1949-2001)
Kristjan K?rver (*1976), Age Hirv (*1973)
Mati Kuulberg (1947-2001)und Lepo Sumera (1950-2000)
Interpreten:
Studenten der Estnischen Musikakademie und des Conservatorium van Amsterdam
Detailliertes ProgrammKuldar Sink (1942-1995)
„Sügise tuul“/“Herbstwind“ aus dem Zyklus „Jahreszeiten“ (1991)
für Mezzosopran, Flöte, Harfe, Gitarre und CelloRaimo Kangro (1949-2001)
Drei estnische Volksweisen für Flöte (1991)Kristjan K?rver (*1976)
„Florete flores“ (2002, UA)
für Mezzosopran, Flöte, Kannel und CelloAge Hirv (*1973)
„Selbstverlust“ (2002, UA)
für Altflöte und Mezzosopran
(basiert auf einem Gedicht von Ilmar Laaban)Lepo Sumera (1950-2000)
„Scenario“ (1995)
für Flöte, Bassklarinette und KlavierMati Kuulberg (1947-2001)
„Für einen Musiker. Kuldar Sink zum Gedenken“
für Soloflöte (1995)Kuldar Sink (1942-1995)
„Lumehelbeke“/“Schneeflöckchen“ aus dem Zyklus „Jahreszeiten“ (1991)
für Mezzosopran, Flöte, Harfe, Gitarre und CelloTarmo Johannes, Flöte
Iris Oja, Mezzosopran
Aare Tammesalu, Cello
Liis Jürgens, Harfe
Kristo Käo, Gitarre
Kristi Mühling, Kannel
Fie Schouten, Bassklarinette (Amsterdam)
Taavi Kerikmäe, Klavier
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