Eröffnung des 45. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm (Max Bornefeld-Ettmann)

45. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm
15. bis 20. Oktober 2002

Eröffnungsfilm: „Bowling for Columbine“
„Und jetzt sehen wir den Trailer“

Großer Kinosaal, CineStar, gerappelt voll, auf die Bühne tritt ein älterer Mann, sein Gesicht wird auf die Leinwand geschaltet. Es ist eine leise Ankündigung, von Pomp hier und auch in der weiteren Entwicklung der Veranstaltung nichts zu sehen. Auf die Bühne gebeten wird Andres Veiel (Black Box BRD), um den Einleitungsvortrag zu halten. Lockeren Schritts tritt im Pulli ein verhältnismäßig jungen Mann an das Redepult. Während wir hier sitzen, sagt er, starten und landen in Frankfurt US-amerikanische Flugzeuge im Minutentakt. Es sei nicht das erste Mal, daß Deutschland als Aufmarschgebiet herhalte.

Es stellt sich die Frage, ob es sich hier um eine politische Veranstaltung handelt. Oberhausen und Hamburg, diese früher im Jahr angesiedelten Festivals, mit ihren kurzen oder mittellangen Filmen, ist bei ihnen Politisches eher die Ausnahme und hier eher die Regel? Es ist der Kurzfilm, der nicht immer ein Dokumentarfilm ist. Der Dokumentarfilm hat die politische Dimension. Veiel weißt ihm eine zunehmend seismographische Funktion zu.

Es wird angekündigt, daß sich im diesjährigen Programm keine Beiträge zu Afghanistan und Irak finden. Auch 9/11 wäre bis auf zwei Ausnahmen kein explizites Thema. Ob man diese Themen verschlafen hätte, stellt sich der Festivalleiter Fred Gehler die Frage. Nein, es sei die Verweigerung von Schnellschüssen. Wer im Laufe des letzten Jahres eine Buchhandlung besucht hat, weiß wovon die Rede ist und dankt. Das Massaker von Littleton sei z. B. ein Thema, daß man aufgrund des Abstands jetzt behandeln könne. „Wenn du es eilig hast, mache einen Umweg“ sage ein chinesisches Sprichwort. Es soll sich als treffend erweisen. Andres Veiel zitierend, wünscht Gehler eine „wunderbare Zumutung“.

Vorgestellt werden die Mitglieder der internationalen Jury. Es folgen die Regisseure. Einer nach dem anderen tritt auf und wird mit einer Rose geadelt. Aus dem irakischen Teil Kurdistans ebenso wie aus Leipzig selbst tritt eine Gruppe zusammen, die nach äußerlichen Kriterien nur schlecht zu beurteilen ist. Die Kleidung ist leger, die Haltung unverkrampft und gelassen. Hier kommt es darauf an, was gesagt und gezeigt wird, nicht, wie sich die einzelnen präsentieren. Das gilt auch für das Publikum an diesem Abend. Fühlt man sich in Oberhausen nur von Künstlern und in Hamburg nur von Studenten und interessierten Bürgern umgeben, scheint die Bandbreite hier größer zu sein. „Bowling for Columbine“

Der Eröffnungsfilm „Bowling for Columbine“ (USA, Kanada, Deutschland, 2002, 122 min.) von Michael Moore befaßt sich mit dem Amerika unserer Tage. Es geht um Littleton, Colorado, Flint, Michigan, Oklahoma City, Kosovo, die NRA, Irak, 9/11, Lockheed Martin, K-Mart, Kanada und Deutschland. Es geht um Gewalt. Es geht um Waffen. Es geht um Angst. Es geht um die Frage, in welchem Zusammenhang der Zugang zu Pistolen und Gewehren sowie deren Munition mit dem Einsatz dieser Waffen steht.

Es ist eine Collage von Nachrichtenausschnitten, Trickfilmen, Werbevideos, Interviews und Alltagsbeobachtungen. Geschickt spürt Moore den Fragen hinter den Bildern nach. Was brachte einen Sechsjährigen in die Situation, seine Mitschülerin mit einem Gewehr zu erschießen? Wie kamen die Amokläufer von Littleton an Waffen und Munition? Welches Motiv trieb sie an? Die Antwort lautet im Falle von Eric Harris und Dylan Klebold: Marilyn Manson, Southpark und Videospiele. Moore reicht diese Antwort nicht. Auf eine scheinbar naive, höfliche und bestimmende Art nähert er sich in Gesprächen mit anderen Schülern und Bürgern einer unterschwelligen, beklemmenden Atmosphäre, die diese Stadt auszuzeichnen scheint. Er untersucht Littleton genauer, er untersucht das Datum des Attentats genauer. Lockheed Martin produziert in Littleton Interkontinentalraketen, die nicht weit entfernt mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden. Der größte Teil der Arbeitsplätze hängen hier von diesem Unternehmen ab. Das Gespräch mit dem Öffentlichkeitsreferenten bleibt eigentümlich leer. Was das Datum 20. April 1999 angeht, muß man Zurückhaltung wahren. Dennoch ist es erstaunlich, daß die Vereinigten Staaten an keinem anderen Tag während des Kosovo-Krieges so viele Bomben abgeworfen haben wie an diesem.

Die Reden von Charlton Heston, die dieser anläßlich der Tragödien in Littleton und Flint gehalten hat, sind eindeutig der ästhetische Höhepunkt der Dokumentation. Sie sind nicht die Pointe, denn der Triumph ist an anderer Stelle zu suchen. Und um den musikalischen Höhepunkt hat sich George W. Bush verdient gemacht. Der Rhythmus, den sein Vater schon gut beherrschte, wird von George W. perfektioniert. Moore schafft es, durch musikalische Unterlegung noch jedem Bild eine Zweifelhaftigkeit abzugewinnen.

Gemäß Oskar Negt war „der Kapitalismus gezwungen, besser und freier zu sein, also freiere Bürger, gesichertere Bürger, angstfreiere Bürger zu haben“ als der Kommunismus. Nach dem Systemkonflikt hat sich die innere Verfassung Amerikas verändert. Die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung durch soziale Unsicherheit und permanente Angst vor dem eigenen Nachbarn ist das Thema von Michael Moore.(Max Bornefeld-Ettmann)

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