Aussöhnung

Düstere Seelenbilder und steife Gespräche zur Eröffnung der musica nova Reihe im Mendelssohn-Saal

Die ersten Klänge, die ich von Terzakis höre, dessen Gegenwart und Gegenwärtigkeit mir noch nicht klar geworden ist, sind schwebende, denen ich ihre zeitliche Herkunft nicht anmerke. Glaube ich in einer sanften Kantilene der Klarinette Giora Feidman zu hören, folgt dem schmerzlich-süßen Gesang der Violine ein plötzliches Ineinanderlaufen der Linien und die schroffe Zerstörung der zarten Atmosphäre durch harte Töne des Klaviers. Mit diesem ruckartigen Wechsel, dem noch viele folgen sollen, beginnt für mich das Konzert.

Es ist eine „gewöhnliche“ musica nova-Stimmung im Raum – insofern Neue Musik „gewöhnlich“ sein kann – das Alter der Zuhörer ist durchwachsen, auch wenn auffällig viele junge Menschen da sind. Wieder werden die Pausen voll sein von Gesprächen der zahlreich anwesenden Kollegen, werden die Künstler selbstverständlich durch den Zuschauerraum flanieren. So seltsam es ist, aber gerade die Konzerte der oft zuhörerabgewandten „Neuen Komponisten“, die sich als solche immer wieder neu bilden, lassen die meiste Künstlernähe zu. Vielleicht liegt es am hohen Freundesgehalt der Zuschauer.

In jedem Fall entkräftet am nachhaltigsten die Anwesenheit von zwei der drei gespielten Komponisten die süße Vorstellung vom mysteriösen Schöpfer, deren Ausmalung nicht unterzukriegen ist und deren Entmythologisierung sich umso interessanter gestaltet. Denn wie die beiden da vorne auf der Bühne stehen, befragt von Steffen Schleiermacher, ist das Antworten und Ausdrücken trotz des kollegialen Duzens nicht weniger steif und unbeholfen als bei jedem anderen, Terzakis wie eine Mischung aus Ustinov und Reich-Ranicki, Uzal mit deutlich unwohlem Gefühl. Doch umso stärker wirkt die Aura ihrer Schaffensumgebung, wenn der Schüler Terzakis ebenso vom freien Lernen bei Lehrer Zimmermann, wie Schüler Uzal von schöpferischer Freiheit bei Lehrer Terzakis spricht.

In dieser Weise von verkomplizierenden Vorurteilen befreit, ist auch das Hören des sperrigen Zimmermann unbefangener. Bestimmen die beiden ersten Stücke von Terzakis unvermittelte Wechsel der Tempi und der Dynamik ebenso wie ungenaue Tonhöhen, so ist man hier hin und her gerissen zwischen brachialen Clustern und frei beweglichen Einzeltönen. Sogar das Ende ist grundverschieden: Lässt Zimmermann sein extrem dynamisches Stück in langen Tönen ausklingen, liebt Terzakis das furiose Ende.

Einen wieder völlig anderen Weg geht Diego Uzals Stück. Im Programm von ihm vorbereitet durch ein Zitat von Nietzsche über die Vorteile der zeitlichen Entfremdung und eigene, weite Gedanken, ist es der Bruch mit Hörgewohnheiten, der das avantgardistische Werk bestimmt. In der Tradition von Lachenmann experimentierte Uzal zusammen mit Instrumentalisten an neuen Klängen, und so glaubt man in den wenigsten Momenten, dass die Geräusche, die man vernimmt, tatsächlich von den visuell wahrgenommenen Instrumenten stammen.

Doch nach dem Konzert sind es nicht diese Werke, die mich beschäftigen. Ohne die beste oder tiefste Komposition des Abends zu sein, entlässt mich das letzte Stück des Abends, die Apocryphen, am Ende unruhig aus dem Saal. Während ich die Treppen heruntergehe, überlege ich, wieso.

Das letzte Stück begann. Terzakis hatte schon vorausgesagt, dass die singende Sibylle keineswegs wie eine aussah. Und tatsächlich, die blonde, beständig lächelnde, ein blaues, mit Glitzersteinen besetztes Kleid tragende Sängerin, deren transparente Schulterbedeckung immer wieder herunterrutschte, hatte wenig Sibyllisches. Noch dazu trug sie in den Raum einen frischen Duft mit hinein, der eher auf frohlockende Frühlingslieder hindeutete, als auf die angekündigten, düsteren Visionen.

Es war eine sonderbare Divergenz zwischen diesen Vorzeichen und der unheilvoll zitternden Musik, die folgte. Nur langsam, erst als das Lächeln nach und nach verschwand, als in breit gezogenen Vokalen, in hohen Koloraturen die Gesichtszüge sich dem Ausdruck annäherten, begann eine tiefere Wirkung um sich zu greifen. Beim Klang dieser Musik machte der Schatten, der sich bei gesenktem Kopf auf ihre Augenlider legte, erschauern. Ganz anders wirkte der Sprecher. Seine oft vom Ensemble überdeckte Stimme klang manchmal hilflos, seine Schreie wie erstickt, und doch, es stieg der Wunsch nach mehr hoch, der Wunsch, in den einschneidenden Zusammenklängen der Instrumente Vergleichbares wahrzunehmen. Dann verdichteteten sich beide Sprachmedien im letzten Teil der Apocryphen zum ineinander greifenden Wechselgesang, zum gegenseitig aufreibenden Wortwechsel, in einer schmerzend apokalyptischen Vision aus Kampf, Tod, Schmutz, Ekel und Krankheit, diesem drohenden Gemisch aus Warnung und Vorahnung, schließlich abgerissen, dann plötzlich: Ende. Ich hatte mich sehr intensiv auf all das eingelassen. Zu unvermittelt war es zu Ende gewesen, kamen die weißen Blumen in die Arme der Sängerin und die weißen Weinflaschen in die Hände der Männer. Zu laut war der Applaus.

Innerlich noch völlig aufgewühlt, vollkommen unausgesöhnt mit dem Gehörten, gehe ich aus dem Konzerthaus. Ich bin nicht zufrieden. Draußen ist ein lauer Abend. Er kühlt mich ein wenig ab. Aber die Aussöhnung mit dem unguten Gefühl, das das Konzert hinterlassen hat, muss ich selbst finden.

musica nova

Franziska Rötting – Gesang
Christopher Jung – Sprechstimme
Ensemble Avantgarde
Leipziger Streichquartett

Gespräche mit Dimitri Terzakis, Diego Uzal

Dimitri Terzakis (geb. 1938) – Seelenbilder / Inner Landscapes (2001)
Bernd Alois Zimmermann (1918-1970)
Perspektiven (1956) Musik zu einem imaginären Ballett für zwei Klaviere I, II
Dimitri Terzakis – 5. Streichquartett (2000)
Diego Uzal (geb. 1969) – Der Gegenwart entfremdet (2002, UA)
Dimitri Terzakis – Apocryphen (1988/89):
Sibylla 1, Offenbarung des Petrus, Sibylla 2, Offenbarung des Petrus, Sibylla 3, Pistis Sophia

16.10.2002, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

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