Vom Singen der Märchen

Werner Heiduczek veröffentlicht Phantastisches aus über 30 Jahren seines Schaffens

„Im Mythos heißt es, der Schwan singt in seiner Todesstunde zum letzten Mal und am schönsten. Wenn wir sagen, der Mythos ist gestorben, so können wir vielleicht auch sagen, er hat im Sterben zum letzten Mal gesungen und dabei das Märchen geschaffen.“ Mit diesen Worten beginnt Werner Heiduczek das Nachwort „Märchen schreiben“ seiner Märchensammlung Das verschenkte Weinen.

In diesen gesammelten Märchen, die Texte aus über dreißig Schaffensjahren in sich vereinen, singt es in vielen, wundersamen Stimmen. Einige Texte, die bereits als Einzelveröffentlichung erschienen sind, eignen sich durchaus für Kinder, sie schlagen einen einfacheren Tonfall an, der dennoch auch für Erwachsene reizvoll ist. Im Märchen Vom Hahn, der auszog, Hofmarschall zu werden begegnen wir einem eitlen Hahn, der eine Reihe von Abenteuern und Misserfolgen erleben muss, immer gefolgt von seinem geduldigen, fürsorglichen Huhn, bis er schließlich wieder an seinen Bauernhof zurückkehrt, von seiner Hybris kuriert.

Ein im wahrsten Sinne des Wortes singendes Märchen ist Der singende Fisch, ein Plädoyer für Außenseiter. Darin schlägt Heiduczek wieder einen anderen Ton an, voller Leichtigkeit und Ironie spielt er mit der Doppeldeutigkeit der großen und kleinen Fische. Das macht dieses Märchen für Erwachsene doppelt lesenswert. Der Vater des kleinen, singenden Fisches, ein großer Fisch, „war gerade dabei, ein noch größerer Fisch zu werden, als er bereits war. Außerdem war er entsetzlich eifersüchtig, und Eifersucht macht selbst einen klugen Mann zum Dummkopf, erst gar nicht davon zu reden, was Eifersucht aus einem eitlen Fischkopf macht.“ Da passt es natürlich gar nicht in den Karriereplan, dass der Sohn ein Ausnahmefisch ist.

Im Märchen Das verschenkte Weinen, das dieser Sammlung den Titel gab, singt ein eher erwachsener Ton. Als Geschichte in der Geschichte konzipiert, spielt der Text während einer Schiffsreise von Gornoprawdinsk den Irtysch abwärts nach Chanty-Mansijsk. Drei Männer, ein Gehirnspezialist, ein Astronom und der Ich-Erzähler, ein junger Journalist, sinnieren darüber, was weniger wert sei, das Lachen oder das Weinen. Als der junge Mann sein Weinen in die Fluten des Irtysch werfen will, erzählt ihm der Gehirnspezialist Alexander Gregorowitsch das Märchen Das verschenkte Weinen. Wie der Schatten, so ist auch das Weinen ein eher negatives, nebensächliches Gut, das man leichthin weggibt, ohne an die Folgen zu denken. Um ihrem Geliebten das Augenlicht wiederzugeben, verschenkt ein Mädchen sein Weinen und verliert damit den Glanz ihrer Augen und die Fähigkeit, überhaupt Gefühle zu haben und empfinden zu können.

Mit den Märchen Der Schatten des Sijawusch und Destan Zal und Rodhabe tauchen wir ein die Welt der orientalischen Märchen mit Sultanen, Dschinns und Karawanen. Hier breitet der Autor sein ganzes überbordendes Erzähltalent aus und braucht den Vergleich mit der märchenhafen Erzählkunst des großen Kirgisen Tschingis Aitmatow nicht zu scheuen.

Der Schriftsteller Werner Heiduczek wurde 1999 mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für sein „alle Genres umfassendes schriftstellerisches Werk“ ausgezeichnet. Neben Essays, Romanen, Theaterstücken und Lyrik sind es immer wieder Märchen und Sagen, die ihn faszinieren. Leider erfährt man relativ wenig über die Vita des Autors in diesem Band. Über die hervorragende Illustratorin Jutta Mirtschin erfährt man gar nichts. Das ist wirklich schade, denn es sind gerade auch die Illustrationen, die diesem Märchenband etwas Kostbares verleihen.

Illustration ist vielleicht sogar der falsche Begriff, denn diese Bilder stehen ebenbürtig neben den Geschichten, sie illustrieren in den seltensten Fällen eine bestimmte Szene, sondern greifen die Stimmung des Märchens auf und formen daraus ein eigenständiges, poetisches Gemälde. Da schweben zarte Figuren in an Paul Klee erinnernde Landschaften, brüchige Goldfolie verleiht den Bildern eine zerbrechliche Kostbarkeit, und der Stern in den Händen des Mädchens aus dem Märchen Jana und der kleine Stern sieht wie ein Segelschiff aus. In diesen symbolischen Deutungen merkt man, dass sich die Künstlerin ganz eigene, philosophische Gedanken zu den Märchen gemacht hat.

„Märchen sind ein Quell, der vom Paradies ausgeht und die Erde bewässert“. In dem Band von Werner Heiduczek hören Sie den vielfältigen Gesang dieser Quelle.

Werner Heiduczek: Das verschenkte Weinen
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2002
mit 30 farbigen Illustrationen von Jutta Mirtschin
220 Seiten, 15 €

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