Sternstunden

Das Leipziger Streichquartett spielt Mendelssohn im Gewandhaus,im Mendelssohn-Haus und im Gohliser Schlösschen

Zu den Höhepunkten im Programm der diesjährigen Mendelssohn-Festtage gehörte zweifelsohne die zyklische Aufführung aller Streichquartette von Felix Mendelssohn Bartholdy durch das Leipziger Streichquartett. Insgesamt neun an der Zahl, zeichnen sie auf wunderbare Weise Mendelssohns kompositorische Entwicklung vom hochbegabten Teenager über den emotional gereiften jugendlichen Komponisten bis hin zum Gewandhauskapellmeister und Schöpfer des „Elias“ nach.

Dass dieser Zyklus zu einem Musikereignis der besonderen Art werden würde, hatte mancher vielleicht geahnt, selbstverständlich war es dennoch nicht. Eilt doch Mendelssohns Musik immer noch der Ruf des stets Gefälligen, klassizistisch Harmlosen, von Konflikten weitgehend Befreiten voraus, deren Komponist sich reifemäßig nie spürbar über den Stand der grandiosen Jugendwerke „Sommernachtstraum“-Ouverture und Oktett hinaus weiterentwickelt habe. Mag dieses falsche Vorurteil auf noch so wahre Ursprünge zurückzuführen sein – es ist spätestens dann erledigt, wenn sich ein Ensemble wie das Leipziger Streichquartett dieser Werke annimmt und sie nicht einfach nach Opuszahl aneinander reiht, sondern durch kluge Programmkonzeption jedem Abend eine eigene Dramaturgie verleiht.

Am Abend des Reformationstages lud zunächst Mendelssohn „persönlich“ in seinen Salon im Mendelssohn-Haus und ließ die Streichquartette op. 44/1+2 vortragen, die, von Helligkeit und Lebensfreude gekennzeichnet, zu den Höhepunkten seines kammermusikalischen Schaffens gezählt werden. Viel mehr als ein schöner Auftakt wurde dennoch nicht daraus. Zum einen verhinderten die leicht überakustischen Verhältnisse, dass der Gesamtklang des Ensembles zu gewohnter Ausgewogenheit und Homogenität verschmelzen konnte, und zum anderen nahmen kleine intonatorische Trübungen einigen harmonischen Wendungen etwas von ihrem Reiz. Außerdem sind diese Werke nicht gerade dazu angelegt, mit den oben beschriebenen Klischees aufzuräumen. Der Komponist selbst bemerkte gar zum e-Moll-Quartett, es komme ihm inzwischen „viel hübscher vor als sonst, aber viel mache [er sich] doch nicht daraus.“ Die Herren Seidel, Büning, Bauer und Moosdorf verlieren sich keineswegs im Wohlklang und spüren stetig neuen Facetten nach. So kommt nach feurigem Beginn das zweite Thema im Molto allegro vivace des D-Dur-Quartetts ganz aschfahl daher, darf sich das zarte Wiegen des Menuetts als weit atmender Bogen entfalten und wird der wehmütig abfallende Gesang der Ersten Geige im Andante von den anderen Stimmen in ein Tongewebe eingebettet, das viel mehr ist als nur Begleitung. Alles in allem aber fehlen diesen beiden Schwesterwerken bei aller Brillanz und Vitalität doch die richtigen Kontraste.

Diese fanden sich am Freitagabend im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses dafür umso mehr. Das den späten Werken Beethovens durchaus ebenbürtige Streichquartett in Es- Dur op. 44/3 hat man selten mit soviel Esprit und einer solchen Prägnanz und Perfektion gehört, wie es das LSQ unter seinem herausragenden Primarius Andreas Seidel ablieferte. Atemberaubende Tempi ohne Verluste in den Ecksätzen, ein Funken sprühendes Scherzo und ein im Tiefsten anrührendes, in die Zeitlosigkeit entführendes Adagio bereiteten den Beginn einer Sternstunde. Ihre Fortsetzung fand diese mit dem op.41/3 des Mendelssohn-Freundes Robert Schumann, bevor man nach der Pause gemeinsam mit den hochkarätigen Gästen (Matthias Wollong, Frank Reinecke, Hartmut Rohde und Michael Sanderling) zur Aufführung des berühmten Oktetts schreiten konnte.

Das Ergebnis war ein einziges Feuerwerk an purer Spielfreude, technischer Finesse und Musikantentum. Besser kann man diese wunderbare Musik nicht spielen! Und da es auf der Bühne und im Saal allen soviel Freude bereitet hatte, und es viele Zuhörer nicht mehr auf ihren Sitzen hielt, gab es das Scherzo abschließend noch einmal.

Für den Samstagabend öffnete das Gohliser Schlösschen seine Tore, und angesichts der kürzlich aufgekommenen Diskussion um die Zukunft dieses Juwels als Kulturstätte ist gleich zu Beginn festzuhalten, dass ich mir für Konzerte dieser Art keinen Ort in der Stadt vorstellen kann, an dem Musik, akustische Verhältnisse und Atmosphäre besser zusammen passen als hier. In diesem herrlichen Ambiente setzte sich also die Reihe fort, und auch dieser Abend hielt Großes bereit. In dem frühen op. 12 lassen sich die Akteure zunächst viel Zeit, um alle Wehmut glutvoll auszukosten, entfachen im abschließenden Molto allegro e vivace stürmische Leidenschaft, bevor das wehmütige Thema aus dem ersten Satz zurückkehrt und schließlich verhaucht. Die sich anschließenden Vier Sätze für Streichquartett führen den Abend unausweichlich hin auf das Streichquartett op. 80, das wohl zu den düstersten und verstörendsten, aber auch tief berührenden Kompositionen Mendelssohns gehört. Komponiert nicht nur als „Requiem für Fanny“ sondern gleichzeitig als „ein Requiem einer Epoche und eine Vorahnung stürmischer, neuer Zeiten“ (Georg Knepler). Eindringlich und unerbittlich gestalten Seidel und seine Kollegen in schroffen Dissonanzen und hämmernden Rhythmen existentielle Verzweiflung und finden im Adagio nach schmerzvollen Ausbrüchen zu sanftem, bewegendem Trost.

Zum Abschluss am Sonntag im Gewandhaus waren dann drei Werke zu erleben, die noch einmal die unterschiedlichen Lebensabschnitte Felix Mendelssohn Bartholdys und seine Entwicklung gleichsam zusammenfassten. Das Streichquartett in Es-Dur ohne Opuszahl des vierzehnjährigen Felix erinnert sehr an Haydn und Mozart. Doch auch das nehmen die Musiker des Leipziger Streichquartetts nicht als bloße Warmspielübung, sondern entwickeln Klangfarben, erfreuen sich an Melodiebögen und spielen mit Linien. Die abschließende Fuga erhält fast barocke Klarheit und Transparenz. Im a-Moll-Quartett op. 13 erweisen sie sich nochmals als ideale Mendelssohn-Interpreten, nähern sich dem Werk mit vollem Klang, der bei aller Emotionalität nie schwülstig wird, und verbinden jugendliche Verve und Leidenschaft mit klassischer Strenge. Ihr Zugriff überzeugt sowohl im knisternden Fugato als auch im schlichten Liedchen des Allegretto. Und wenn Andreas Seidel im Presto das eiskalt-dissonante Tremolo der anderen nieder singt und zum Anfangsthema zurückführt, fühlt der Zuhörer nur noch Glückseligkeit. Das Streichquintett op. 87 setzte den würdigen Schlusspunkt unter vier bewegende Abende.

Felix Mendelssohn Bartholdy: Sämtliche Streichquartette; Oktett

Leipziger Streichquartett

31.10.-3.11.2002

Mendelssohn-Saal des Gewandhaus; Mendelssohn-Haus; Gohliser Schlösschen

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