12. euro-scene: Ein verstörendes „Alibi” im agra Messepark (Britta Paasche)

14.11.2002 euro-scene
agra Messepark Halle 2

?Alibi?
Konzept und Regie:Meg Stuart
Mit:Simone Aughterlony, Joséphine Evrard, Davis Freeman, Andreas Müller, Vania Rovisco, Valéry Volf, Thomas Wodianka
Raum und Kostüme:Anna Viebrock
Dramaturgie:Bettina Masuch
Video:Chris Kondek
Musik:Paul Lemp
Text:Tim Etchells, David Wojnarowicz, Katharine Jones, Damaged Goods


Ausgesetzt

Die Amerikanerin Meg Stuart, 1965 in New Orleans geboren, gründete 1994 in Brüssel die Tanzgruppe Damaged Goods. Mit dieser ist sie seit Herbst 2001 als artist in residence am Schauspielhaus Zürich tätig. Dort entstand auch die Produktion ?Alibi?. Sie wurde in der Viehauktionshalle erarbeitet und hatte im November 2001 Premiere. Meg Stuart gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen ChoreografInnen. Nicht nur auf dem Berliner Theatertreffen, zu dem ?Alibi? als eine der herausragenden Produktionen deutschsprachigen Theaters des Jahres geladen wurde, feierte die Produktion triumphale Erfolge. Zu Recht wurde ?Alibi? deshalb auch als Mittelpunkt der diesjährigen euro-scene ?Wurzeln & Visionen? nach Leipzig geholt.

Im Lexikon findet sich unter Alibi der Eintrag: ?Alibi, [das; lateinisch, „anderswo“] Nachweis eines einer Straftat Verdächtigen über seine Abwesenheit vom Tatort zur Tatzeit.? Es geht also um die Klärung einer Schuldfrage und um Täter und Opfer. Genau diese Konstellation versucht ?Alibi? nachzustellen, nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Verhältnis von Darsteller und Zuschauer. Das Stück verweigert eine durchgehende, nacherzählbare Handlung. Stattdessen werden aneinandermontierte Sequenzen und Szenen gezeigt. Essentielle Bestandteile der Inszenierung sind neben den Darstellern und ihrem Spiel, der Bühnenraum, Videoeinspielungen, Musik und Publikum.

Anna Viebrock, die Bühnenbildnerin Christoph Marthalers, hat für ?Alibi? einen Raum entworfen, der zwischen Hinterhof, alter Turnhalle, Jugendclub und Aufenthaltsraum einer Irrenanstalt changiert. Zwischen schmutzigen Betonwänden stehen trostlos und verlassen kaputte Schreibtische, eine alte Matratze und ein halbes Sofa herum. An den Wänden die Reste alter Metallregale und ein scheinbar seit Jahren unbenutzter Basketballkorb. Dazwischen und eingeschlossen die sieben Darsteller. Kontakt zur Außenwelt haben sie mittels eines Telefons und durch die auf zwei Fernsehern bzw. auf der dem Auditorium gegenüberliegenden Betonwand eingeblendeten Videoprojektionen. Nur das Glashaus am rechten Rand bietet so etwas wie Zuflucht und Schutz. Darin gibt es sieben Stühle, für jeden einen. An den Stühlen hängen Jacken, davor stehen Mikrophone.

Das Spiel beginnt als die Darsteller ihr Glashaus verlassen. Einer verschworenen Fußballmannschaft gleich, die sich für das kommende Spiel rüstet und gegen die gegnerische Mannschaft wappnet, sammelt man sich in der Mitte des Raumes. Bäuchlings auf dem Boden ausgestreckt, Körper und Köpfe kreisförmig einander zugewandt, die Arme gegenseitig auf den Rücken verschränkt liegen sie und stoßen Kampfgeschrei aus, das in ein ?Ole, Ole? gipfelt. Als sich das Körperknäuel auflöst, beginnen auf der Wand Videoprojektionen von Blicken in leere Wohnungen, Wald- und Stadtlandschaften zu flimmern. Die verhetzten Bilder nehmen Zuschauer und auch Darsteller gefangen. Aus dem off dröhnt Musik, rasenden Herzschlag intonierend, der in die Körper der Darsteller fährt. Die Atmosphäre ist von Gewalt, Aggression, Einsamkeit, Verzweiflung und Selbstzerstörung aufgeladen. Die sieben Tänzer und Schauspieler imitieren Schussverletzungen. Sie spielen Sterbende und schauen dabei mit aufgerissenen vorwurfsvollen Augen ins Publikum. Oder sie ergehen sich in Kämpfen und Rangeleien, die plötzlich zu Umarmungen werden, bevor sie sich wieder in Gewalttätigkeiten verwandeln. Alles ist schnell, schnell, ganz schnell. Bilder und Musik, Stromstößen gleich, durchfahren die Leiber und treiben die Körper voran.

Am Ende dringen die empfangenen Impulse sichtbar nach außen. Sie entladen sich in einem Zittern, das nacheinander alle Darsteller erfasst. Zuerst die Möchte-gern-Schläger-Figur, die sich von Darsteller zu Darsteller gelümmelt hat, bevor sie auf das Publikum losging, es anstarrte und fast anspie. Sie proklamiert leer zu sein: ?ein leerer Fremder?, ?die Durchschrift meiner äußeren Gestalt?. Sie konstatiert: ?Ich verschwinde, aber nicht schnell genug.? Dann werden ihre Worte von Musik übertönt, lächelnd beginnt sie zu zittern. Am Schluss stehen sie alle da und verzittern eine scheinbar endlose Zeit, viele Minuten lang.

Meg Stuart gelingt es mit ?Alibi?, eine Atmosphäre fast unerträglicher physischer Angst, Vereinzelung und Gewalt zu kreieren. Die Intensität der Darstellung ist provozierend und bedrückend zugleich. Und erst das black beendet die Tortur.

(Britta Paasche)

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