Ein vergnüglicher Abend

Zehn Jahre Ensemble amarcord: ein Jubiläumskonzert

Komödiantisches Trauerspiel in drei Akten.
PrologIch stehe auf dem Augustusplatz und betrachte durch die riesigen Glasfenster des Gewandhauses das Wandgemälde von Sighard Gille und die darunter zwei-etagig flanierenden Konzertbesucher. Derart präsentiert, scheint hier schon eine Aufführung vor der Aufführung zu laufen, komplexes Bewegungstheater mit dem Detailreichtum eines Werner Tübke. Während ich diese scheinbare Unwirklichkeit weiter betrachte, gehe ich langsam auf das Haus zu und frage mich, welches Theater wohl heute aufgeführt wird – auf, hinter und vor der Bühne.
1. Akt
Gewandhaus. Großer Saal. Im Hintergrund eine große Orgel. Um eine Holzplattform eine große Anzahl von rotsamten bedeckten Klappsesseln. Auf der Holzplattform verschiedene Mikrofone, Stühle, Notenpulte mit der Aufschrift „LeipzigBigBand“, ein großer Flügel. Von der Decke hängen ebenfalls Mikrofone. In einer Ecke steht ein Mann mit Kamera, neben ihm ein Mischpult.

Fünf schwarz gekleidete Herren mit grünen Krawatten betreten die Bühne. Sie stellen sich vor jeweils ein Mikrofon und beginnen zu singen. Ein anonymes, französisches Madrigal klingt durch den Saal. Die Stimmen der Herren sind leicht, ihre Tonsprünge anmutig und trotz zurückgenommener Lautstärke voller Spannung.

Die fünf Herren bilden zusammen ein Aushängeschild der Stadt Leipzig, das ensemble amarcord, bedacht mit verschiedenen Preisen internationaler Wettbewerbe. Nachdem sie ihr Lied beendet haben, kommt ein junger Mann mit Hornbrille, offenem Kragen und einem Mikrofon in der Hand hinzu. Er singt nicht, sondern wird den Abend immer dann, wenn keine Musik ist, mit seinen flotten Sprüchen, weisen Bemerkungen und unbedingt notwendigen Erklärungen zum Geschehen auf und hinter der Bühne verschönern. Von ihm wird man auf muntere Weise erfahren, wieso die Reitlehrerin eine Freundin der Mutter irgendeines Komponisten kennt (oder so ähnlich) und wer bei wem im Französischunterricht abgeschrieben hat und darum ein Stück komponiert.

Doch zuerst darf eine Frau, die Kulturreferentin genannt wird, die Geschichte des Ensembles aus einem Faltblatt vorlesen. Sie soll wohl Stimmung machen.

Danach erklingt endlich wieder Musik. Die jungen Sänger vermitteln anschaulich den Sinn des folgenden Liedes, indem sie durch besonders breite Vokale und gackernde Silbenrepetitionen das Gespräch zweier Frauen ausschmücken, das in einem weiteren französischen Madrigal besungen wird. Danach verwirren sich vielschichtige polyphone Melodiephrasen, die jedoch mit äußerster Klarheit und tiefem Strukturverständnis dargebracht werden.

Das Leipziger Streichquartett, das nun auf der Bühne sitzt und nach einem Beitrag des liebenswerten Radiomoderators zu spielen beginnt, intoniert kleine, einfache Stücke aus Hindemiths Plaudertäschchen. Sehr erfreut über die leichte Speise vernimmt das Publikum danach wieder einmal verwirrt die Prosatextausmalung des Marcus Ludwig, der zusammen mit amarcord auch einen wichtigen Preis gewonnen hat, aber nicht hierfür. Es ist eine trauerselige Gegennote zum lustigen Programm, aber es war eigentlich aus verschiedenen Gründen nicht der richtige Moment.

Mehr Verständnis erntet Poulenc, noch viel mehr aber der Liebling des lokalen Auges (ja, auch Ohres, gut), Eisenberg, der auf seiner Orgel mit den massigen Klängen Regers poltert, auch manchmal leise Töne hervorbringt, worauf die Schweller lustig tanzen und der altgediente Schluss mit breiten Fingern erklingt. Es ist hübsch, das Auge tränt in gewohnter Weise, bis es unterbrochen wird. Nun darf das Ohr staunen über die tollen Fanfaren und die vielen reinen Schulkadenzakkorde, mit denen Vaughan Williams unser patriotisches Herzklopfen ersucht.

Auch wenn der werte Moderator danach mit Bluesgrößen spielen will, dürfen die Gitarristen von hands on strings ans Werk. Solide Technik fundiert ihr Spiel, langsam sich befreiende Improvisationen machen Hoffnung. Aber der Abend bleibt seinem Charakter treu und schiebt schnell eine Pause ein, sobald sich eine wirklich musikalische, kreative Atmosphäre andeutet.

Vorhang.
2. Akt – Pause (im Treppenhaus und Foyer, voller Werbung und mit dem Schock über die einunddreiviertel Stunde, die man schon hinter sich hat, nicht zu interessant)

3. Akt
(gleiche Kulisse wie 1. Akt)

Es beginnt wieder mit den reinen Amarcorden, was einen Kreis mit dem Anfang bildet. Zwei bewegungsreiche Stücke erweichen sofort die Herzen der Zuhörer, die sich weiterhin verwöhnen lassen. Die Wortmeldung des allseits beliebten Radiomenschen führt schnell in die bekannte Stimmung des Abends zurück.

Das Licht wird gedämpft, Per Arne Glorvigen, ein bekannter Bandoneonspieler, betritt die Bühne. Plötzlich entfaltet sich etwas anderes als bisher. In dem leichten Wechsel zwischen weiten, grübelnd-tiefsinnigen Klängen und tief einschneidenden Tangorhythmen, die Glorvigen in unglaublicher Weise trotz oft fast unhörbar angedeuteten Akkordschlägen zusammenhält, liegt ein Zauber, der zur Illusion verführen kann, dass es hier um die Musik geht.

So ist wenigstens eine Basis geschaffen für das unzweifelhaft wichtigste Stück dieses Abends, die neue Komposition von Bernd Franke. Dem kundigen Hörer drängt sich die Frage auf: Ist dieses Publikum in diesem Rahmen überhaupt bereit, eine zeitgenössische Arbeit aufzunehmen, ihm eine Chance zu geben?, und antwortet ruhigen, nämlich resignierten Gewissens: Nein, völlig unmöglich, und nickt wissend über die leichten Lacher, die Effekte wie das Atmen des Bandoneons zu Beginn und die teilweise perkussive Behandlung seines Korpus hervorbringen. Wo soll auch hier genug innere Reflexion und Offenheit entstehen, um die geflüstert-gesungen-gehauchten-echoisierten Klangbilder zu verstehen, um zu verstehen, dass hier sowohl für das Bandoneon als auch für die spezielle Gesangsgruppe stimmig komponiert wurde. Und selbst wenn, man wird sofort wieder dem Zauber entrissen.

Denn nun, meine Damen und Herren, die lustigen Swingnummern der allseits beliebten BigBand. Und das ist noch nicht alles, wir legen noch eine nette Bach-Swing-Bearbeitung dazu, gemixt aus den allseits bekannten Zutaten: ein bekanntes Stück, ein wenig Rhythmus darüber, dazu ein klassischer Swing und schon rasen wir munter hinein in die finaleske Revue, in die wir alles irgendwie hineinpacken, das eingelullte Publikum zu neuartigen Songs wie I Got Rhythm wippen lassen, die klanglich völlig unpassende Orgel dazwischen herumtrompetet, das Streichquartett sich mit den Gitarren im Django-Stil und einer kleinen Einsprenkelung von Honey Pie vergnügt, und wir schließlich – ach ja, die A-cappella-Herren waren auch noch irgendwo zu hören – quietschvergnügt aus dem Saal eilen. Denn die Schlangen vor den Garderoben sind groß, der Abstand zu um acht ist groß, und groß anderes kann man nun auch nicht mehr gewinnen.

Der Abend endet. Ein letzter Blick auf die großartigen Namen des Programmzettels, ein trauriger Seufzer über die plakative Verpulverung großen Potentials, dann das Verlassen des Hauses. Vorhang.EpilogSchweren Herzens trenne ich mich vom überdachten Vorplatz des Gewandhauses und wandle durch den Nebel nach Hause. Die Menschen, die eben noch halbdunkle Reihen von Gesichtern und Hindernissen beim Weg nach draußen gewesen sind, gehen jetzt mehr oder weniger eilig an mir vorbei. Als ich eine spöttische Bemerkung über das Konzert höre, bin ich etwas erleichtert. Denn das Konzert ist vorbei, also, Herr Rezensent, gehe dahin und richte. Ich für meinen Teil plädiere auf Befangenheit, denn nur hervorragende Künstler waren beteiligt an der vielumworbenen Lobby-Veranstaltung, und doch habe ich selten eine derart sperrige Kombination von künstlerischer Kompetenz und bestenfalls deprimierender Programmgestaltung erlebt. Ich gehe nun dahin und richte, aber wohl ist mir nicht dabei.

10 Jahre Ensemble amarcord – Jubiläumskonzert

ensemble amarcord:
Holger Krause, Daniel Knauft (Bass), Franz Ozimek (Bariton), Dietrich Barth (Tenor), Wolfram Lattke (Tenor, Altus)

Leipziger Streichquartett
Matthias Eisenberg – Orgel
hands on strings – Thomas Fellow, Stephan Bormann (Gitarre)
Per Arne Glorvigen – Bandoneon
LeipzigBigBand – Leitung: Frank Nowicky
Arndt Schmöle – Moderation

16.11.2002, Gewandhaus, Großer Saal

Programm

ensemble amarcord
Anonymus (um 1530): Quand je bois du vin clairet – Tourdin
Pierre Paasserau (um 1509-1547): Il est bel et bon
William Byrd (1543-1623): Vigilate

Leipziger Streichquartett
Paul Hindemith (1895-1963): aus Minimax. Repertorium für Militärmusik
Armeemarsch 606, Löwenzähnchen an Baches Rand, Die beiden lustigen Mistfinken, Alte Karbonaden

Leipziger Streichquartett + ensemble amarcord
Marcus Ludwig (*1960): Es war eigentlich aus (UA)

ensemble amarcord
Francis Poulenc (1899-1963): aus Quatre petites priéres de Saint François d’Assise
III. Seigneur, je vous en prie
IV. O mes trés chers fréres

Matthias Eisenberg
Max Reger (1873-1916): Introduktion und Passacaglia d-Moll für Orgel

Matthias Eisenberg + ensemble amarcord
Ralph Vaughan Williams (1872-1958): Festival Piece on ?Sine Nomine?

hands on strings
Thomas Fellow (*1966): 9 pm (part II)
Astor Piazzolla (1921-1992): Libertango (Arr. hands on strings)

hands on strings + ensemble amarcord
Astor Piazzolla: Oblivion (Arr. Thomas Fellow)
Stephan Bormann / Thomas Fellow (*1966 / *1966): Corda Cantat (UA)

ensemble amarcord
Mia Helander (*1970): Ode „We are The Music Makers“
Miguel Matamoros: Bolero „Juramento“ (Arr. Electo Silva)

Per Arne Glorvigen
Francisco de Caro: Flores negras
Julio de Caro: La Rayuela

Per Arne Glorvigen + ensemble amarcord
Bernd Franke (*1959): unseen blue (I) for voices and bandoneon (UA)

LeipzigBigBand
W. C. Handy / Herbie Hancock / Andreas Moisa: St. Louis Blues

LeipzigBigBand + ensemble amarcord
Johann Sebastian Bach (1685-1750): Fuge c-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier I (Arr. Ward Swingle
Johann Sebastian Bach: Kantate „Komm, Jesu, komm“ BWV 229 (Jazzarrangement)

Finale: alle Musiker
George Gershwin (1898-1937): I Got Rhythm (Arr. Rob McConnell / Frank Nowicky)

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