Die „Cannes Rolle 2002” mit prämierten Werbefilmen (Roland Leithäuser)

Die „Cannes Rolle 2002“ mit prämierten Werbefilmen in der Schaubühne Lindenfels
Samstag, 23.11.2002
Sitzt Du noch oder gehst Du schon?

Ich hätte keine schlechte Lust, sofort wieder zu gehen. Der Konzertflügel im kleinen Kinosaal der Schaubühne hindert mich daran, die ganze Leinwand zu sehen; so muß ich erahnen, was sich jeweils links unten auf Zelluloid abspielt. Keine Frage, die „Cannes Rolle“ erfreut sich jedes Jahr aufs Neue großer Beliebtheit beim Publikum. Es sind weniger ästhetische Aspekte, die den Reiz des Anschauens prämierter Werbefilme ausmachen, vielmehr hat sich herumgesprochen, daß viele der gezeigten Spots von wahrhaft großer Komik zeugen. Es handele sich bei den 100 gezeigten Spots, die in drei Kategorien mit dem bronzenen, silbernen oder goldenen Löwen ausgezeichnet werden, demnach um „die besten und witzigsten Werbespots des Jahres“. Da bei meiner Ankunft im Saal aber bereits alle Plätze vergeben sind und die Dame an der Kasse auch nichts von einer vorbestellten Karte zu wissen scheint, kennt meine Witzigkeit an diesem Abend Grenzen. Ich nehme auf einem Notsitz Platz.

Es öffnet sich der Vorhang, und wie in jedem Jahr ist das Gelächter und die Ratlosigkeit bei den Zuschauern gleichermaßen groß. Die Auswahl der Spots wirkt mitunter beliebig, vieles ist bereits aus der Erstverwertung in Kino und den einschlägigen Werbespot-Dauersendungen des Privatfernsehens bekannt. Lachen ist ein erwünschter und erhoffter Nebeneffekt moderner Werbefilme, doch tritt die eigentliche Werbebotschaft dabei zunehmend in den Hintergrund. So haben viele dieser Kurzfilme zwar einen hohen Wiedererkennungswert, doch erinnert man sich Sekunden nach Ende des Spots schon nicht mehr an das eigentliche Produkt.

Traditionell ist ebenfalls die schwache Präsenz deutscher Werbespots beim alljährlichen Festival von Cannes. In diesem Jahr hat es nur ein einziger Spot in die Liste der 100 Besten geschafft, ein Werk aus dem Hause Springer & Jacoby, das überdies gar nicht für den deutschen Werbemarkt produziert wurde. Tonangebend sind nach wie vor Amerikaner, Briten, Südamerikaner und Spots aus dem fernöstlichen Raum. Doch auch Länder wie Australien sind inzwischen dazu in der Lage, Maßstäbe in Sachen Werbung zu setzen. Große Firmen wie Young and Rubicam, Mathers & Ogilvy oder DBB haben ihre Repräsentanzen nun einmal rund um die Welt eingerichtet und verfügen zudem über die entsprechenden Etats, um in Cannes jedes Jahr ganz vorne mit dabei zu sein.

Die wenigen nachdenklichen oder kritischen Filme im Wettbewerb (beispielsweise Anti-Raucher-Kampagnen oder ein Film, der die Konsequenzen unangeschnallter Autofahrer bei einem schweren Unfall nachdrücklich vor Augen führt) sorgen beim Publikum für Betroffenheit und hinterlassen insgesamt wahrscheinlich den stärksten Eindruck. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß eine solche Ästhetik der Betroffenheit in ähnlichem Maße wie die bunten, schnell geschnittenen Spots solcher Firmen wie Nike, Coca Cola oder Levi’s immer mehr die von Richard Sennett postulierte „Tyrannei der Intimität“ für Werbezwecke gangbar macht. Der Rückzug ins Private wird von der Werbung konsequent verstellt, wer sich dem Druck entziehen wollte, müßte das Fernsehgerät ausgeschaltet lassen, den Kinosaal meiden. Unnachgiebig und dennoch auf ihre Weise genial verfolgen die Werbefilme der Möbelkette IKEA diesen Weg: in herrlich grotesken und künstlerisch wertvoll zu nennenden Kleinodien. Die Ausstattung der Wohnung ist vorgegeben, Widerstand ist zwecklos, das Private erscheint in Auflösung.

Ein in Deutschland bis zum heutigen Tag vernachlässigtes Genre stellt die Werbung für Fernsehsender dar, die sich gerade in den U.S.A. erfrischend originell und witzig präsentiert. Während man hierzulande bekanntlich mit dem zweiten Auge besser sieht und sich dies in dunkel gehaltenen Spots von TV-Moderatoren unablässig einreden läßt, investieren gerade amerikanische Sender wie Fox News oder der Sportsender ESPN in aufwendige und farbenfrohe Werbefilme. Amerika, Du hast es besser! Nach neunzig Minuten Dauerwerbung (ein Zustand, den der allabendliche Fernsehgucker wohl dankend ablehnen würde) wird dann noch ein Sonderpreis für den besten audiovisuellen Gesamteindruck in einem Werbespot vergeben. Er wirbt mit schnellen Schnitten und wummernden Bässen für einen Laufschuh von Nike und ist weder witzig anzusehen noch zeichnet ihn eine klar umrissene Handlung aus. Das versöhnt schließlich, denn solche Spots sind es, die uns tagtäglich bei Spielfilmunterbrechungen den Sender wechseln lassen.(Roland Leithäuser)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.