Igor und die wilde 13

Strawinsky und eine Uraufführung mit dem Ensemble Avantgarde bei der Musica Nova

Das reine Programm dieses Konzertes füllt beinahe zwei Seiten im Programmheft. Auch wenn einige der Stücke weniger als eine Minute lang sind, dauert das Konzert doch fast zweieinhalb Stunden. Und es lohnt sich: Man bekommt Kammermusikwerke aus allen drei Schaffensperioden Strawinskys zu hören, darunter eine veritable Uraufführung, sowie einige kurze Texte des Meisters. Das Ensemble Avantgarde hat sich nämlich in dieser Spielzeit vorgenommen, die Komponisten persönlich zu Wort kommen zu lassen. Da dies im Falle Strawinskys im buchstäblichen Sinn schlechterdings nicht möglich ist, wird auf Texte des Komponisten zurückgegriffen; Ausschnitte aus den Erinnerungen und der Vorlesungsreihe Musikalische Poetik. Und zusätzlich gibt es noch ein Paar Originaltöne Strawinskys, wie er einer amerikanischen Sängerin die richtige russische Aussprache einzuhämmern versucht. Die Texte werden gelesen von Steffen Schleiermacher, der auch den Abend moderiert. Immer wieder werden auch die Hörer des Deutschlandradios Berlin, das live zugeschaltet ist, daran erinnert, dass hier Werke von Strawinsky erklingen, dass aus dem Leipziger Gewandhaus übertragen wird und dass das Ensemble Avantgarde spielt. Deutschland hört mit. So gesellen sich zu den vielleicht 80 Zuhörern im Saal noch unzählige Namenlose. Das adelt den Abend.

Einige der Stücke, die auf dem Programm stehen, bekommt man im Konzert wohl eher selten zu hören. Etwa die Elegie von 1944 in der Fassung für Viola solo. Ein höchst reizvolles Stück, zwischen barocker Mehrstimmigkeit in der Art einer Bach’schen Violinpartita und der verfremdenden Tonsprache Strawinskys schwankend. Ganz klar: Etikett „neoklassizistisch“. Oder das Lied ohne Namen von 1918 für 2 Fagotte: Ein schlichtes Thema mit Begleitstimme, das über einen kurzen verschlungenen Umweg wieder zum Ausgangspunkt findet. Virtuoser und gewitzter sind die im gleichen Jahr entstandenen 3 Stücke für Klarinette. Sie erinnern schon mehr an die berühmten Ballette Strawinskys. Laut Steffen Schleimacher ist die Mini-Miniatur Pour Pablo Picasso die kleine Sensation des Abends, weil eine veritable Uraufführung. Ein kaum mehr als 10 Sekunden dauerndes Stück für Klarinette, ein sehr kurzes Thema, das sehr kurz entwickelt wird und dann endet, dessen Autograph im Nachlass Pablo Picassos aufgefunden wurde und vorher wohl nie zur Aufführung gelangt ist.

Aus der frühen Schaffensperiode stammen auch die 3 Stücke für Streichquartett, die sehr unterschiedlichen Charakters sind. Vor allem das dritte Stück fällt mit seinen schwebenden, entrückten Klängen aus dem Rahmen. Die anderen beiden Sätze sind Strawinsky-typisch: tänzerisch, wild, mit repetitiver Motivik und kantiger Rhythmik. Ebenso das Octett für Blasinstrumente: Typisch neoklassizistische Tonsprache. Das in den 50er Jahren komponierte Septet dagegen ist anders: Zwar auch irgendwie Strawinsky, aber fremder, nicht so vertraut. Bedenkt man aber, dass dieses Stück zwölftönig gesetzt ist, ist es wiederum erstaunlich, dass immer noch soviel Strawinsky darin ist. Ebenso die Three Songs from William Shakespeare von 1954. Die Singstimme erinnert an zwölftönige Gedicht-Vertonungen von Schönberg, doch der instrumentale Satz klingt nach Strawinsky, trotz der zwölf Töne, die vollständig erklingen müssen.

Ein Ausnahmewerk scheint die Sonate für 2 Klaviere zu sein. Besonders ihr zweiter Satz klingt ein wenig wie romantischer Jazz, oder vielleicht sogar wie eine kitschige Pop-Ballade. Interessant, welche musikalische Bandbreite dieses Konzert präsentiert. Es ist vieles von dem vertreten, was zu Strawinskys Lebzeiten kompositorisch eine Rolle gespielt hat. Den Rahmen dieses Konzertes bilden die Deux Poémes de Konstantin Balmont zu Beginn und die Trois Poémes de la lyrique japonaise am Ende. Und hier sind wir wieder ganz im Inneren der vertrauten Tonsprache Strawinskys. Am Ende eines aufregenden Ausflugs durch die verschiedenen Aspekte des Schaffens dieses großen Komponisten des vergangenen Jahrhunderts. Hervorragend interpretiert von den Musikern des Ensemble Avantgarde und der jungen Sängerin Ausrine Stundyte. Live übertragen aus dem Mendelssohn-Saal des Gewandhauses zu Leipzig.

musica nova

Ensemble Avantgarde
Ausrine Stundyte – Gesang

Musik und Texte von Igor Strawinsky

11. Dezember 2002, Mendelssohn-Saal des Gewandhauses


PROGRAMM:

Deux Poémes de Konstantin Balmont (1911/1954) für Sopran und Kammerensemble:
Myosotis, d’amour fleurette – Le PigeonLied ohne Namen (1918) für 2 Fagotte3 Stücke für Streichquartett (1914): 1 Dance – 2 Eccentric – 3 CanticleThree songs from William Shakespeare (1953) für Mezzosopran, Viola, Klarinette und Flöte:
Musick to heare – Full fadom five – When Dasies Pie

Textausschnitt aus „Erinnerungen“ und Originalton Strawinskys bei der Probenarbeit Pour Pablo Picasso (1917) für Klarinette3 Stücke für Klarinette (1918): 1 – 2 – 3The owl and the pussy cat (1966) für Sopran und KlavierOctett (1922/1952) für BlasinstrumenteFanfare for a new theatre (1964) für 2 TrompetenSonate für 2 Klaviere (1943/44): 1 Moderato – 2 Thema mit Variationen – 3 Allegretto La Marseillaise (1918) für Violine solo

Textausschnitt aus „Musikalische Poetik“ Elegie (1944) für Viola soloSeptet (1952/53) für Klarinette, Horn, Fagott, Klavier, Violine und VioloncelloTrois Poémes de la lyrique japonaise (1913) für Sopran und Kammerensemble:
1 Akahito – 2 Mazatsumi – 3 Tsaraiuki

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.