Wie im Märchen: Humperdincks Hänsel und Gretel konzertant (Friederike Haupt)

Ein Weihnachts-Märchen
Humperdincks ?Hänsel und Gretel? einmal anders

Hänsel und Gretel verirrten sich auf dem Leipziger Weihnachtsmarkt. Um auch in Zeiten der Wirtschaftskrise und der drohenden Rezession nicht auf ihre Mallorca-Reise zu verzichten, hatten ihre Eltern sie dort ausgesetzt. Nun irrten die Geschwister zwischen den Buden herum und fanden den Nachhauseweg nicht mehr. Natürlich war es dunkel und bitterkalt, und alle hatten Besseres zu tun, als den Kindern zu helfen. Da kamen sie plötzlich an einen Glühweinstand mit riesiger Auswahl: Von Feuerzangenbowle über Kinderpunsch und Irish Coffee bis hin zu Glühwein gab es alles, was das Herz begehrte. Schnell bestellte der fürsorgliche Hänsel für sich und seine Schwester etwas zu trinken, während der Budenbesitzer murmelte: ?Schlürfi Schlürfi Scheinchen, wer schlürft an meinen Weinchen??

Als die beiden ausgetrunken hatten, zerrte der Weinwirt ? ganz unvermittelt ? Hänsel und Gretel über den Tresen in die Bude und flüsterte mit heiserer Stimme: ?Ihr seid noch nicht 16 Jahre alt und trinkt trotzdem schon Glühwein? Und das auch noch, ohne zu bezahlen?? Die Geschwister blickten ängstlich und schuldbewusst zu Boden. ?Nun, ihr Kleinen, als Strafe dafür werdet ihr in meine Dienste eintreten. Du, Hänsel, wirst hier Getränke ausschenken, bis du groß genug bist, um als Weihnachtsbraten verkauft zu werden.? Der Budenbesitzer rieb sich gierig die Hände, während er zu Gretel sprach: ?Und du kannst dann abends hier immer alles saubermachen.? Die Kinder zitterten vor Schreck und wussten nicht, was zu tun sei. Just in diesem Augenblick aber hob der Mann den Deckel vom großen Glühweintopf und schaute hinein, um zu prüfen, ob es auffallen würde, wenn er noch etwas mehr Wasser nachgießen würde: Da stieß Gretel seinen Kopf in den Wein und der Unhold ertrank. Schon rief Hänsel mit seinem Handy die Eltern an, um ihnen mitzuteilen, dass er jetzt Gastronom werde. Da kamen Vater und Mutter frohlockend wieder, sammelten den Nachwuchs ein und verpachteten die Bude höchst einträglich an einen Leipziger mit der Lizenz zum Ausschenken.

Das ist natürlich nicht die Originalversion des Grimm-Märchens ?Hänsel und Gretel?, und es ist auch nicht das Libretto zur gleichnamigen Humperdinck-Komposition, sondern eine von unendlich vielen Möglichkeiten, das Sujet der Oper ins Heute zu übertragen ? zumal, wenn es einem von den Aufführenden so leicht gemacht wird.

Die Aufführenden, das sind Studierende der Hochschule für Musik und Theater, Helmut Kukuk (musikalische Leitung) und Elvira Dreßen. Elvira Dreßen verkörpert in der Oper die Mutter von Hänsel und Gretel, wurde als Gast für die schwierige Mezzosopran-Partie engagiert und rettete den Abend: Vor gut gefülltem Haus wird fünf Minuten vor Beginn der Aufführung verkündet, dass Dreßen krank sei und eigentlich nicht auftreten könne (entsetztes Tuscheln im Auditorium), es aber dennoch tue (erleichtertes Aufatmen und Applaus). Dem vorweihnachtlichen Ohrenschmaus steht nichts mehr im Wege, erwartungsvoll lehnt man sich zurück und riskiert noch einen letzten Blick aufs Programm: ?Konzertante Aufführung? steht da, und die Bühne scheint nichts anderes zu ermöglichen. Der Streifen zwischen Dirigentenpult und vorderem Bühnenrand ist nur etwa vier Meter breit. Aber abwarten…

Gleich zu Beginn der Oper wird klar, was einst schon Richard Strauss entzückte: Die vom vorzüglich spielenden Sinfonieorchester dargebotene Ouvertüre bringt selbst notorische Handtaschen-Kramerinnen zur Ruhe, und das letzte Räuspern erstirbt bei populären Liedern wie ?Suse, liebe Suse? oder ?Brüderchen, komm tanz mit mir?. Gunda Baumgärtner als Gretel überzeugt durch unnachahmliche Mimik ?von naivem Lächeln über ängstliches Stirnrunzeln bis zu schadenfrohem Grinsen spart sie, der Handlung entsprechend, nichts aus ? und lässt, wie alle Solisten, keine Zweifel an ihrem sängerischen Können aufkommen.

Für besondere Aufmerksamkeit und heiteres Erstaunen sorgte jedoch etwas anderes, nämlich die szenische Einrichtung. Wechselt das Geschehen in den Wald, steht eine Fichte auf der Bühne, Nebel schießt von unten hervor und sorgt für unheimliche Effekte, wenn sich das grüne Licht in ihm bricht. Zwischen Dirigent und Orchester fährt die Hexe (hervorragend bösartig: Matthias Schubotz) aus dem Boden, nachdem an gleicher Stelle ihr Haus ? 20 cm groß und aus Lebkuchen ? auf einem Stab hervorgekommen war (Gretels Wunsch, doch sofort hineinzugehen, sorgte für einige Erheiterung bei den Zuschauern). Eben dieser Platz vor dem Dirigenten fungiert später auch als Ofenloch, in dem die kreischende Knusperhexe verschwindet, woraufhin die Oper zu ihrem guten, eben märchenhaften Ende findet.

Nach einem unterhaltsamen, künstlerisch gehaltvollen Abend bleibt die abschließende Bemerkung zu machen, dass das Fehlen pompöser Requisiten eine so populäre Oper wie Humperdincks ?Hänsel und Gretel? zu einem kleinen Abenteuer im Konzertsaal macht: Der eigenen Phantasie werden keine Grenzen gesetzt. Und das ist es schließlich, was Märchen wollen.

(Friederike Haupt)

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