Eine Zukunft – ein wenig pathetisch gesprochen

Uraufführung von Bernd Frankes Bandoneon-Konzert mit dem MDR Sinfonieorchester

Banal scheint der Gedanke zu sein, dass das Kommende aus dem Gewesenen entstehen muss und entsteht, und doch wird es in Bezug auf neue Musik immer wieder betont. Vielleicht entspringt dieses Bedürfnis dem ständig präsenten „Jetzt Völlig Neu!“ und vielleicht ist die gegenüberstehende Zufriedenheit mit dem Gewohnten dessen notwendiges Pendant. Ist Zukunft das ständige hin und her gezerrt Werden zwischen diesen Polen?

Wäre es so einfach, könnte man ebenso einfach den sonderbaren Reiz von Bernd Frankes Musik erklären. Denn seine spezielle Position im Gezerrt-Werden und Selbst-Zerren stellt sicherlich einen wichtigen Grund dar, zerrissen ist seine Musik allemal.

Doch es muss mehr sein, der hohe Anteil an verwandtschaftlichen, kollegialen, studentischen und sonstigen Sympathietragenden kann allein die allgemeine Begeisterung nach dem Erklingen seiner Stücke nicht erklären, auch nicht im Verbund mit der hervorragenden Leistung von Per Arne Glorvigen und deren Unterstützung durch das restliche Ensemble beziehungsweise das harmonische Zusammenspiel im zweiten Stück. Das Ausbleiben des irritiert verhaltenen Beifalls, der mitunter auch Züge der Erleichterung trägt und oft zum unersetzlichen Repertoire des Konzertgängers gehört, ist hier nicht verwunderlich.

Das kann man auf zweierlei Weise verstehen: Ist die Musik anbiedernd und zuträglich genug, um den Zuhörer nicht zu erschrecken mit Ungewohntem, oder gibt sie dem Zuhörer die Chance, einen Zugang zu finden? Aus der ersteren Sichtweise spricht ein Irrtum, nämlich dass der „normale“ Konzertbesucher nicht neugierig und aufgeschlossen sei. Vielmehr ist es der letztere Punkt, der den Ausschlag gibt, auch für die Wirkung der beiden Franke-Kompositionen dieses Abends – die Erschließbarkeit.

Der Beginn von ?open doors‘ mit der Kombination von U-Bahn-Geräuschen und musikalischen Sequenzen weckt theatralische, wenn nicht gar filmische Assoziationen. Ebenso lässt die räumliche Verteilung einzelner Musiker, so selbstverständlich Klang von allen Seiten im Alltag auch ist und dem Konzertsaal durchaus nicht unbekannt, an Surround-Effekte denken, die ureigenst gewiss nicht dem Konzertsaal entstammen. Doch auch das Integrieren der E-Gitarre in die Suite bringt dieses Element der Entgrenzung mit sich.

Gleichzeitig passiert mit dieser Instrumentierung ebenso wie im Bandoneon-Konzert eine Atmosphärenmodifizierung, die mindestens abenteuerlich ist. Egal wie es eingesetzt wird, das Bandoneon transportiert mit seinem klagenden Gesang in der Melodie und dem tragischen Erzittern im Akkord sowie seiner engen Verbindung zum Tango argentino eine Suggestion, die fern des konzertanten Geschehens liegt. In gleicher Weise fördert ein E-Gitarren-Solo, zumal stark verzerrt, andere Bilder als das des am Notenpult sitzenden, wenigstens langhaarigen Anzugträgers.

Aber dieser weitführende Klangreichtum, der sich keineswegs in diesen beiden Elementen erschöpft, ist ein wesentlicher Teil des Faszinierenden. Genauso entscheidend dürfte die innere Dynamik der Stücke sein, die, profan gesagt, mitreißende Action bringt, die wiederum in eklatantem Widerspruch zu dem bescheidenden, dankbaren Künstler steht, der schließlich auf der Bühne erscheint. Mit ihrem wilden Aktionsreichtum, dem manchmal brutalen Wechsel aus lyrisch andenkenden und kraftvoll dazwischenhauenden Akkorden, dem ständig Bewegung Ausgesetztsein, ob im Klanglichen Perkussives oder Atmendes thematisierend, diese Unruhe, diese zerrissene Zeit ist das, was dem gehetzten Dasein am ehesten entspricht. Auch in den ruhigsten Zeiten bewegt man sich ereignisbezogen.

Das wahrscheinlich Eindrücklichste bleibt jedoch der stilistische Reichtum, dessen Bandbreite im besten Sinne modern ist. Denn darin liegt die Chance neuer Musik: die Anerkennung jeder musikalischen Äußerung – ohne aus jeder Inspiration zu schöpfen – das Umstürzen musikalischer Grenzziehungen – ohne indiskutabel zu werden – die reflektierende Auseinandersetzung mit kritischen Dimensionen unseres Lebens – ohne Intellektualisierung zum Selbstzweck zu praktizieren.

In dieser Weise ist und hat Bernd Frankes Musik nichts weniger als das: eine Zukunft.
(Mit herzlichen Glückwünschen und Dank an den Komponisten!)

3. Rundfunkkonzert des MDR

MDR Sinfonieorchester
Konzertmeister: Hartmut Preuss
Solist: Per Arne Glorvigen (Bandoneon)
Dirigent: Rolf Gupta
Joseph Haydn (1732-1809):
Sinfonie G-Dur Hob. I:100 „Militär“ Bernd Franke (geb. 1959):
„open doors“ for bandoneon and orchestra – UA
For Shalom Ash – five pieces for orchestra, Suite aus „Mottke der Dieb“ – UADarius Milhaud (1802-1974):
Sinfonie Nr. 9 op. 380

Dienstag, 21. Januar 2003, 20 Uhr, Gewandhaus, Großer Saal

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