Hardcore

0,2 Promille Zuschauer bei echter Hardcore-Avantgarde mit Werken von Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono und Ipke Starke

Wenn in einer Stadt mit beinahe einer halben Million Einwohner 100 Leute in ein Konzert gehen, so entspricht das etwa 0,2 Promille. Anders ausgedrückt: Einer von 5000 Einwohnern ist dann in dieses Konzert gegangen. – Bei bestimmten Konzerten ist das aber noch erfreulich viel. Etwa wenn, wie in unserem Fall, echte Avantgardemusik erklingt. Das mag daran liegen, dass Nono und Stockhausen zu den ganz großen zeitgenössischen Komponisten gehören, aber auch daran, dass es eine Uraufführung eines jungen Leipziger Komponisten gibt.

Hinter dem Werk mit dem Titel Mikrophonie I von Stockhausen steckt ein zumindest interessantes Konzept (wie bei Stockhausen im allgemeinen ein elaboriertes Konzept freilich nicht fehlen darf). Es besteht in der intensiven Annäherung an das Schlaginstrument Tamtam und dem Versuch, ihm alle nur erdenklichen Klänge zu entlocken. Diese Klänge werden durch zwei Mikrophone, die in wechselnden Abständen an das Instrument gehalten werden, verstärkt. So als hielte man sein Ohr direkt an die große Metallscheibe, um noch das leiseste Surren des Metalls zu vernehmen. So verstärkt, werden dem Instrument allerdings auch sehr lautstarke Klänge abgerungen. Zudem es sich, wie Steffen Schleiermacher stolz betont, um das größte Tamtam Deutschlands handelt, eigens für diesen Abend entliehen („Fragen Sie nicht, was das gekostet hat!“). Der Versuchsaufbau für dieses Stück ist wie folgt: Zwei Spieler, die die Klänge auf jeweils einer Seite des Tamtams erzeugen. Zwei Mikrophonhalter, die diese Klänge einfangen. Und zwei Spieler, die einen Filter und die Aussteuerung regeln.

Das Stück fängt relativ unvermittelt mit leisen Lauten an. Mit verschiedenen alltäglichen Gegenständen wird auf dem Tamtam entlanggeschlittert. Unmerkliche Vibrationen werden durchs Mikrophon hörbar gemacht. Lautere Geräusche werden dann durch das Entlangschaben mit einem Kamm auf dem Rand des Instruments erzeugt. Ein schrilles Fiepen entsteht durch das Anstreichen eines Weinglases, das auf dem Tamtam aufliegt, mit einem Geigenbogen. Irgendwann kommt ein elektrischer Rasierer hinzu, dessen Motorengeräusch sich auf der Metallplatte ausbreitet. So überlagern sich die unterschiedlichsten akustischen Phänomene, die einem Tamtam zu entlocken sind, durch die Nähe oder Ferne des Mikrophons in unterschiedlicher Weise vermittelt. Eine Musik, die ein Sichhineinhören voraussetzt, ja im Grunde selbst in einem solchen Sichhineinhören besteht. In das Instrument und seine akustischen Potentiale. Es zählt nur noch die Folge einzelner Klangmomente, die ein Schlaginstrument zu erzeugen imstande ist. Die Konzentration auf den harten Kern des einzelnen klanglichen Ereignisses. Der Hörer befindet sich gleichsam im Zentrum des Klangs. Es ein einziges Schaben, Schnurren, Dröhnen und Surren.

Das Stück von Ipke Starke, der seit 2000 eine Professur für Tonsatz und Methodik an der Leipziger Musikhochschule innehat, beginnt mit dem Streichen und vor allem Zupfen leerer Cellosaiten. Es entwickelt durch die Kombination verschiedener Motive und deren Weiterverarbeitung durch die Live-Elektronik eine erkennbare Form und Dramaturgie. Matthias Moosdorf, der schmächtige, blasse Cellist mit Brille, entwickelt sich langsam mithilfe der Technik zu einer unbarmherzigen und kalten Terminator-Figur. Das hybride Wesen aus Mensch und Technik lässt den Homo Sapiens über sich hinauswachsen, macht ihn quasi selbst zur Maschine. – Dies wäre zumindest eine mögliche Deutung. Die wahren Ideen und Intentionen des Komponisten bleiben leider auch nach dem Gespräch zwischen Steffen Schleiermacher und Ipke Starke im Anschluss dieser Uraufführung im Dunkeln.

Das Stück von Luigi Nono, das übersetzt wohl soviel heißt wie „Die nostalgisch-utopisch-zukünftige Ferne“ ist ein ganz bemerkenswertes Werk. Fast noch mehr als bei Stockhausen ist hier eine völlige Versenkung in das musikalische Geschehen gefordert. Während das Stück von Stockhausen immerhin etwa 25 Minuten dauerte, muss der Zuhörer nun circa 50 Minuten ausharren, was selbst den Kritiker einer Leipziger Tageszeitung nach etwa einer halben Stunde in die Flucht schlug. Die übrigen hundert Zuhörer und wohl wahrlich Hartgesottenen blieben standhaft sitzen. Wer glaubt, zeitgenössische Musik verlange vor allem ein rationales Herangehen, der täuscht sich; zumindest bei diesem Werk. Eher schon ist ein mehr emotionales Sichhineinversetzen gefragt. Wieder befindet sich der Hörer im Zentrum des Geschehens zwischen acht Lautsprechern und dem Solisten, der etwa alle zehn Minuten von einem zum anderen Notenständer wandert, die ebenfalls rings ums Publikum aufgestellt sind.

Das Werk beginnt mit Violinklängen vom Tonband, fast denkt man: Das ist der sprichwörtliche Himmel voller Geigen! Freilich klingen sie alle atonal – sind wir also in der Hölle? Der Solist schleicht in den Saal und gibt seine Kommentare zu den anderen Geigen. Alles ist behutsam, leise, suchend. Wie ein vorsichtiges Vorantasten im Dunkeln. Doch wie man sich im Dunkeln vorantastet, um sich nicht zu stoßen, so versucht auch der Hörer sich einen Weg durch all diese fremdartigen Melodien und Klänge zu bahnen. Und man gewöhnt sich ein wenig an die Dunkelheit. Schemenhaft erscheinen Umrisse, die Angst schwindet. Es ist vielleicht wie im Jenseits: Fremd, ein wenig bedrohlich, aber sanft und geborgen wie ein ewiger Schlaf. Die Musik könnte ewig so weitergehen, wenn nicht der Violinist irgendwann auf einem hohen Ton stehenbliebe und aus dem Raum schleichen würde. Dann ist es vorbei.

musica nova _ Musik und Gespräche: Ipke Starke

Andreas Seidel – Violine;

Matthias Moosdorf – Violoncello;
Ipke Starke – Klangregie;

Ensemble Avantgarde

Programm:

Karlheinz Stockhausen: Mikrophonie I (1964)

Ipke Starke: I always work alone. Für Arnold Schwarzenegger für Violoncello und Live-Elektronik (Uraufführung)

Luigi Nono: La lontanaza nostalgica utopica futura (1988/89)
Madrigale per pi´ caminantes con Gidon Kremer für Violine und Tonband
22. Januar 2003, Mendelssohn-Saal des Gewandhauses

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