Ihr habt nun Traurigkeit

Hartmut Haenchen, Isabelle van Keulen und das Gewandhausorchester geben Trauermusik von Mozart, Mahler, Hartmann und Strauss im Gewandhaus

Die Leidenschaften der Seele sind mannigfaltig. Freude und Trauer aber gehören zur Grundausstattung. Und wohl nichts lässt sich durch die Musik besser ausdrücken als diese beiden Grundaffekte. Ob es sich bei der Trauer aber um diejenige über den Tod zweier Logenbrüder, wie in Mozarts Maurerischer Trauermusik, oder um die Trauer über die zerstörte Heimat, wie in Strauss‘ Metamorphosen, handelt, scheint zunächst keinen Unterschied zu machen. Die Gefühle sind im Wesentlichen identisch. Und doch macht es einen Unterschied, aus welchen Beweggründen musikalische Werke entstanden sind. Karl Amadeus Hartmann komponierte sein Concerto funebre zu Beginn des zweiten Weltkriegs, aus Verzweiflung über die politische Situation, künftige Katastrophen vorausahnend. Strauss‘ Metamorphosen dagegen blicken zurück in Trauer über das zerstörte München und das völlig vernichtete Dresden. Ob der Komponist dabei auch an die Millionen toten Juden und Russen dachte? – Man weiß es nicht.

Ein russisches Sprichwort besagt, bevor man nicht den Boden unter sich zwei Meter tief mit den eigenen Tränen durchnässt hätte, wäre man kein vernünftiger Mensch geworden. Zum einen zeugt dies von einem zutiefst sympathischen russischen Wesenszug, zum anderen von der Erkenntnis, dass Leid wesentlicher Bestandteil des Lebens ist. Wenn also ein symphonisches Konzert einmal ein vollständiges Programm mit Trauermusik bringt, so wird die Musik dem Dasein gerecht. Sie widersteht dem falschen Anspruch, Kunst müsse immer heiter sein und eine positive Einstellung zum Leben vermitteln „angesichts all des Elends in der Welt“.

Wie lassen uns Hartmut Haenchen und das Gewandhausorchester diese Trauer aber nun spüren? – Zunächst Mozarts Maurerische Trauermusik: Langsame, sequenzierende Streicherfiguren, die Bläser treten hinzu. Es ist etwas, das wir von Mozart schon kennen: Aus einem langsamen Satz eines Klavierkonzerts oder auch aus „Don Giovanni“ und, natürlich, aus dem Requiem. Eine wirklich tief empfundene Trauer, die von Dirigent und Orchester auch recht glaubhaft vermittelt wird. Ein Gefühl beginnt plastisch zu werden. Dann Strauss‘ Ausnahmewerk, die Metamorphosen. Wenn man sich Filmaufnahmen der zerstörten Städte um 1945 vors geistige Auge rückt, lässt sich nachfühlen, was damals für eine bodenlose Verzweiflung geherrscht haben muss. Auch für denjenigen, der die symphonischen Werke von Richard Strauss weniger schätzt, springt hier ein Funke über. Eine sehr eindringliche Interpretation wird geboten. Kaum weniger eindringlich Karl Amadeus Hartmanns Violinkonzert. Aus dem Spiel der Solistin Isabelle van Keulen spricht die zur Musik gewordene Stimme der Verzweiflung, das Orchester fällt in ihr Klagen ein. Hartmut Haenchen dirigiert mit vollem Einsatz, der aber vom Orchester nicht so ganz eingelöst wird. Es bleibt ein kleiner Rest unrealisiert. Musikalische Details, die wichtig sein könnten, gehen unter.

Das letzte Werk des Abends scheint ein wenig anders gelagert zu sein: Mahlers Totenfeier, aus der später der erste Satz seiner zweiten Symphonie wurde. Pathetischer sicherlich als die anderen Werke dieses Abends, nicht so glaubwürdig in seiner Trauer. Aber phantastisch dargeboten. Ein Werk, das sehr vieles enthält. Und sehr viel von diesem Detailreichtum wird auch tatsächlich umgesetzt. Es zeigt sich, dass Traurigkeit widersinnerweise eine wahre Freude sein kann. Und so könnte man sagen, dass das Motto des Hauses an diesem Abend einen buchstäblichen Sinn erhält: Eine ernste Sache als wahre Freude. Das Motto des Abends indes könnte auch lauten: Res severa vera tristitia.

Wolfgang Amadeus Mozart: Maurerische Trauermusik (KV 477)
Richard Strauss: Metamorphosen. Studie für 23 Solostreicher
Karl Amadeus Hartmann: Concerto funebre für Violine und Streichorchester
Gustav Mahler: Totenfeier. Sinfonische Dichtung für großes Orchester

Gewandhausorchester
Dirigent: Harmut Haenchen
Solistin: Isabelle van Keulen, Violine

23. Januar 2003, Gewandhaus, Großer Saal

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