Ein Reisebrief

Kammermusik vom Feinsten mit Werken von Mozart, Pärt, Tüür, Takemitsu und Schostakowitsch im Tallinner Rathaus

Das Rathaus der Weltkulturerbe-Stadt Tallinn wurde erstmalig 1322 als Sitz des Magistrats urkundlich erwähnt. Neben der ältesten Apotheke Nordeuropas zählt es zum Kern des nach der nahegelegenen Landschaft Rävala benannten Reval (Revel oder lateinisch Revalia). Schon im Jahre 1154 vermerkte vermutlich der arabische Reisende al Idrisi auf seiner Karte den Namen Koléwan (aus dem altestnischen Wort Kaleva). Die Esten selbst haben die allererste Festung an diesem Ort Lindanise genannt und als 1219 der Kampf gegen die Dänen verloren worden war, hieß die entstehende Burg unter den Esten Taani linn (Dänenburg). Einer Legende nach stamme die Dänische Flagge, der „Danebrog“, aus eben dieser Schlacht. Im Jahre 1346 wurde das nordestnischen Gebiet um Tallinn vom dänischen König an den Deutschen Orden verkauft und gelangte später in die Gewalt des neu gegründeten Livländischen Ordens. Im Laufe der Zeit wurde aus Taani linn Tallinn und ist es bis heute geblieben, auch wenn die deutsche Oberschicht die Stadt sieben Jahrhunderte lang Reval nannte.

Schon seit einiger Zeit sind die gründlichen Renovierungsarbeiten am Rathaus beendet, die seit Ende der 1990er Jahre dieses Kleinod mittelalterlicher Baukunst nun in seiner schönsten Pracht erstrahlen lassen. Schon in den 1970er Jahren waren umfangreiche Restaurierungsarbeiten erfolgt, aber dreißig Jahre lang nagte seitdem der unerbittliche Zahn der Zeit am Gemäuer, so dass nun mit neuester Technik eines der ältesten erhaltenen mittelalterlichen Rathäuser Nordeuropas nicht nur Touristen zum Staunen anregt, sondern auch die Konzertgäste mit blenden weißer Fassade und dunkel-schweren Holztüren zum Besuch einlädt. In eben dieser Atmosphäre von jahrhundertealter Tradition, frischen, hellen Mauern, bunten Farben der Gestühl- und Deckenmalerei sowie moderner Technik im Inneren ist der Rathaussaal als Konzertstätte sowohl für ältere und alte Musik als auch für die zeitgenössische Musik ein gern besuchter Ort.

Das „Uus Tallinna Trio“/ „Neue Tallinner Trio“ wurde 1997 gegründet und hat seit dieser Zeit schon in einigen Ländern Europas an Meisterkursen und Kammermusikwettbewerben teilgenommen und Konzerte gegeben. Die Pianistin Marrit Gerretz-Traksmann (*1971) hatte Unterricht u.a. beim ehemaligen Rektor des damaligen Tallinner Konservatoriums Bruno Lukk und beim derzeitigen Rektor der Estnischen Musikakademie (EMA) Peep Lassmann. Der Geiger Harry Traksmann (*1973) studierte u.a. bei Jüri Gerretz. Er ist Konzertmeister des Tallinner Kammerorchesters und Mitglied des Neue-Musik-Ensembles „Nyyd“/“Jetzt“. Kaido Kelder (*1970) studierte Cello u.a. bei Peeter Paemurru. Auch er ist Mitglied des Tallinner Kammerorchesters und gehört zur Gruppe der Nyyd-Musiker.

Wie oft wohl hat man schon Mozarts (1756-1791) Kammermusik gehört, jedes Mal wie neu und frisch ist seine Tonsprache, sodass es eine Freude ist, in diese Musik einzutauchen, sie aufzusaugen, sie zu genießen. Der Beginn des Trios C-Dur KV 548 (1788) gelingt furios, technisch sicher durchfliegen alle drei Musiker die für Mozarts spätere Kammermusik charakteristischen virtuosen Partien. Auch wenn der Klang der Violine anfangs etwas belegt klingt und das Cello zunächst kaum solistisch hervortritt, kommen die Musiker mit jedem Takt besser in Schwung. Und sobald die sehr heikle Mozart’sche Filigranität von selbst zu schwingen beginnt, sind alle drei in bester Form.

Arvo Pärts (*1935) „Mozart-Adagio“ von 1992, redigiert 1997, setzt die Mozart’sche Klangfeinheit zu Pärt’scher meditativer Klangsuche in ein wohlaustariertes Verhältnis. Den Notentext der Klaviersonate F-Dur KV 280 des 18jährigen Mozart hat Pärt für Klaviertrio bearbeitet und ihm sowohl ein Vorspiel als auch ein Nachspiel hinzugefügt. Dabei fällt auf, dass in dieser Bearbeitung durchaus alles Mozart’sche vorhanden ist, Pärt jedoch die Faktur mit Cleverness und vereinzelten Dissonanzen auf gekonnte Weise zu würzen versteht. Besonders das Nachspiel lässt Pärts Stil durchschimmern und gibt dem Adagio eben diese andachtsvolle Stimmung, die für Pärts Musik nach 1977 so typisch geworden ist. Die Uraufführung dieses Trios fand 1992 in Helsinki statt, es ist dem 1990 verstorbenen russischen Geiger, Mozart-Verehrer und Freund Pärts Oleg Kagan gewidmet. Heute erklang die redigierte Fassung von 1997.

„Arhitektoonika VII“ aus dem Jahre 1992 gehört zur Reihe von sieben selbständigen Stücken für wechselnde Besetzung, die zum Bekanntwerden Erkki-Sven Tüürs (*1959) in der zeitgenössischen Musikszene wesentlich beigetragen haben. Es entstand als Auftragswerk des Festivals „Musica“ in Strasbourg und ist original für Flöte, Cello und Cembalo komponiert. Ein Jahr später wurde es vom Komponisten dann für Flöte, Bassklarinette und Klavier bearbeitet und erklang heute in einer Klaviertrio-Fassung.

Tüürs Tonsprache ist unverwechselbar, wechselnde Besetzungen bestätigen dies nur und rufen jedes Mal eine staunende Begeisterung hervor. Die wenigen und einfachen, in verschieden langen Phrasen sich wiederholenden, dabei sich ähnelnden Motivgruppen, sind Merkmal der polyphonen Tüür’schen Musik. Durch ihre rhythmische Elastizität bringen sie das ganze Geflecht aus kleinen Blöcken und in einander verflochtenen Einzelstimmen zum Schwingen und machen z.B. aus dem C-Moll-Akkord ein lebendiges, in sich bewegtes und farbiges Band. Dem stellt Tüür als Kontrast atonal und hart klingende blockhafte Abschnitte entgegen, die den Gegenpol zum zuvor beschriebenen, schön klingenden Schwingungsgeflecht darstellen.

Man kann sich, bezogen auf die polyphone Struktur dieser Musik, gewisser Assoziationen an barocken Stil nicht entziehen, aber es ist beeindruckend, wie persönlich und Tüür-typisch diese in sich bewegte Faktur ist. Man könnte meinen, in Tüürs Musik sei die bei einem Komponisten wie György Ligeti (* 1923) nur auf dem Papier sichtbare, nicht jedoch in ihren Einzeltönen hörbare „Mikropolyphonie“ in ihrer ganzen strukturellen Dichte und Filigranität wahrnehmbar geworden. Nicht nur im heute gespielten „Arhitektoonika VII“, sondern auch schon beispielsweise im Streichquartett (1988) oder später im Requiem (1994) findet sich solch eine „hörbar“ gewordene „Mikropolyphonie“. Der soeben aufgestellte Vergleich beruht auf einer teilweisen, verblüffenden, optischen Ähnlichkeit von Werken beider Komponisten, wobei durch geforderte Legatoverbindungen bei Ligeti der Einzelton unhörbar wird und alles zu einer fließenden Fläche wird. Bei Tüürs Struktur jedoch bildet sich aus den Einzeltönen das schon erwähnte, in sich bewegte Klanggeflecht und folglich ist das akustische Resultat ein völlig anderes als bei Ligeti. Auch dem Titel lassen sich Assoziationen entlocken, denn mit erstaunlicher Sicherheit entsteht hier ein Klanggebäude in vielgestaltigen Maßen und modernem „Aussehen“.

Tôru Takemitsus (1930-1996) „Between tides“ („Inmitten der Gezeiten“) von 1993 (UA in der Berliner Philharmonie) ist ein Meer an Klängen, Klangfarben, Steigerungen und Entspannungen. Die Assoziationen an Olivier Messiaens (1908-1992) Akkordik sind offensichtlich, aber trotzdem entsteht eine eigene Welt, ein Gemisch aus abendländischer Kompositionspräzision und fernöstlicher Philosophie des Yin-Yan.

Als letztes Stück erklingt das Trio C-Dur op. 8 (1925) von Dmitri Schostakowitsch (1906-1975). Im Vorfeld der ersten Sinfonie entstanden, ist es ein wunderbares Zeugnis der frühen Meisterschaft des jungen Komponisten. Oft ist die Musik expressiv, dann wieder einfach nur schön, bis hin zu Debussy-hafter Impressionistik. Der junge Komponist nutzt die Möglichkeiten der Instrumente perfekt. Herrlich sind die farblichen Wirkungen, die dadurch erzielt werden, beispielsweise perlende Akkordketten in höchster Lage des Klaviers gepaart mit einem singenden Cello in dessen mittlerer und besonders klangintensiver Lage. Hier spürt man noch nicht die schmerzhafte, wie eingebrannte, bisweilen zur Grimasse verzogene Angespanntheit und ironische Groteske, die für spätere Werke charakteristisch ist. Eine beinahe sorgenfreie Klangwelt tut sich vor dem Ohr des Hörer auf und reißt ihn mit ihrer Emotionalität und Ungestümheit so manches Mal mit.

Auch als Zugabe nach langem Applaus wird dann Schostakowitsch gespielt (die Bearbeitung eines Klavierpréludes), und so findet die bei Mozart begonnene musikalische Reise in Schostakowitschs Zusammenfassung (klassischer Beginn – expressiver Schluss) ihren würdigen Abschluss.

„Uus Tallinna Trio“/“Neues Tallinner Trio“

Harry Traksmann (Violine)
Kaido Kelder (Cello)
Marrit Gerretz-Traksmann (Klavier)

28. Januar 2003, Tallinna raekoda/Tallinner Rathaus, Eesti/Estland

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.