Wieviel Ampere hat ein Kunstwerk ?

Zur Ausstellung „Bilder im Wechselstrom”

Wenn Sie sich auch schon einmal diese Frage gestellt haben, sollten Sie unbedingt die aktuelle Ausstellung „Bilder im Wechselstrom“ im Museum der bildenden Künste besuchen. Doch nicht durch das Berühren der Gemälde, Skulpturen, Druckgraphiken und Zeichnungen wird Ihre Frage beantwortet werden – nein, das lassen Sie besser! – sondern durch einen intensiven Seitenblick auf die dem jeweiligen Werk assoziierten Ausstellungsobjekte.

Die Kuratoren der Ausstellung wählten vierzehn Meisterstücke aus der Sammlung des eigenen Hauses und trugen Museumsgut aus anderen Leipziger Sammlungen zusammen, die um das jeweilige Kunstwerk ein Netz von Deutungsmustern knüpfen. Diese Objektassemblage soll jedoch nicht das Konzept der „Kunst- und Wunderkammer“ wiederbeleben, sondern das Potential einer Zusammenarbeit zwischen den Leipziger Museen und Sammlungen beispielhaft aufzeigen. 25 dieser Einrichtungen beteiligen sich an der Ausstellung, die Dr. Hans-Werner Schmidt, der Direktor des Museums, in seiner Eröffnungsrede als „Leuchttürme“ bezeichnete, welche die kulturelle Landschaft Sachsens als Orientierungspunkte erhellen.

So gewinnt der Besucher einen Einblick in die Schätze jener Institutionen, wird aber zugleich auch in das Bedeutungsgeflecht eines Kunstwerkes hineingenommen, dem andere Werke und Objekte erläuternd, reflektierend und imaginierend beigeordnet sind. Jeder Raum entwickelt seine individuelle Spannung, die den Betrachter anregt, dem feingliedrigen Beziehungsnetz aus kultur- und naturgeschichtlichen Knotenpunkten seine eigenen Assoziationen und Erinnerungen hinzuzufügen.

Schon im ersten Raum werden Sie große Mühe haben, nicht in nostalgisches Memorieren zu verfallen: Auf dem Schulweg ist der erste Komplex benannt, der sich um Gustav Adolph Hennigs Gemälde „Die Töchter des Malers auf dem Schulweg“ aus dem Jahre 1851 entwickelt. Schulaufsätze, Pionieruniformen und eine Schulbank, die das Schulmuseum Leipzig beisteuerte, lassen die jüngere Vergangenheit lebendig werden und zeugen neben anderen Objekten von einer langen Pädagogikgeschichte.

Wenn man durch den Ruhe-Raum gewandelt ist, der um Fritz Winters Gemälde „Ruhe“ von 1965 die unterschiedlichsten Objekte schart, welche die Stimmungswerte des Bildes aufgreifen, kann der Besucher sich in die Europäische Traumwelt Orient entführen lassen. Stanislaus Batowski-Kaczors Gemälde „Befreiung der Tochter aus türkischer Gefangenschaft“ von 1899, das moralisierend und voyeuristisch zugleich mit dem Motiv des Harems spielt, gibt den Rahmen vor für ein morgenländisches Interieur aus dem Museum für Kunsthandwerk, Gemälde und Fotos, die das abendländische Bild vom geheimnisvollen Osten spiegeln, und nicht zuletzt Dokumente zur Leipziger Aufführungstradition der Mozartoper „Die Entführung aus dem Serail“.

Wenn Ihnen die süßliche Atmosphäre der Haremsexotik lag, dann finden Sie vielleicht auch Im Reich der Flora Anregungen für Ihre Phantasie: die höchst dekorativen Blütenvasen des Jugendstilkünstlers Emile Gallé, das pompöse Galakleid einer Leipziger Kammersängerin und das etwas morbide Haarbild in Form eines Blumenbouquets scharen sich um ein Beispiel schöpferischer Antikenrezeption – Adriaen de Vries‘ Bronzestatuette ?Flora? von 1615 – das antike Sinnbild für Blüte, Lebensfülle und sich im Tanz vollziehende Entblätterung. Schon in der ägyptischen Verehrung des Lotos kommt es zum Blumenkult: nachts in den Wassern des Nils versinkend, bei Tage wieder neu erblühend war er ein Symbol der Wiedergeburt, und so verwundert es nicht, wenn die Lotosblüte in Form eines Bechers dem Trinkenden neues Leben zusprechen soll. Aber auch der europäische Jungfernkranz und das blütenschwere Totengesteck reden von der Lebenskraft der Blume.

Durch soviel florale Vitalität gestärkt, wird wohl kaum einen Besucher die Angst ergreifen, wenn er im nächsten Raum der Königin der Löwen gegenübersteht: Albert Gauls Bronzestatue „Große stehende Löwin“ (1899-1901) ist nicht nur das erste Beispiel der Abkehr vom apotropäischen Typus des Herrscherbegleiters, sie bietet auch reichlich Bezüge zur Stadtgeschichte. Haben sie schon einmal etwas von der „Leipziger Löwenpanik“ gehört? Nein? Zeitungsartikel und Postkarten werden sie über das schreckliche Ereignis von 1913 informieren, als das nur friedlich gekannte Tier aus dem Stadtwappen in achtfacher Ausführung die Straßen unserer Stadt unsicher machte. So manchen wird es dann befriedigen, auf Fotos zu sehen, wie ein Präparator des Leipziger Zoos einen Löwen fachgerecht ausstopft.

Wer doch lieber eines der meistgedeutetsten Werke der Kunstgeschichte bewundern und etwas über den enzyklopädischen Anspruch neuzeitlicher Kunst erfahren möchte, der wird im Raum Die Melancholie – ein Bild des Künstlers in Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia II“ von 1514 eine Entdeckung machen. Einen Einblick in die Zeit des 30jährigen Krieges verschafft hingegen der Raum Bild und Ereignis, der um Adolph von Menzels Gemälde aus dem Jahre 1847 „Gustav Adolph empfängt seine Gemahlin vor dem Schloß zu Hanau 1632“ ein Assoziationsfeld entwirft. Abgründe der Seele tun sich auf in Francois-Auguste Biards Gemälde „Der wahnsinnige König Karl IV. von Frankreich“ von 1839, das nicht nur eine Brücke zum Exorzismus der katholischen Kirche schlägt, sondern auch zur psychatrischen Anstalt, die sich im Ausstellungsraum in einem Bett mit Fixiernetz manifestiert, und zu den Greueln der Euthanasie des 3. Reiches.

Haben Sie noch nicht genug von Dämonie und Besessenheit – Im nächsten Objektkomplex mit dem Titel Andare in strigozzo, wird ihre Imaginationskraft zu Hochtouren auflaufen: der Kupferstich „Hexenzug“ von Raimondi und Veneziano umringt sich mit Teufelspilz und Stechapfel aus dem Sächsischen Apothekenmuseum ebenso wie mit einer Ausgabe des „Maleus maleficarum“ von 1511, dessen inquisitorische Rezeption so viele heilkundige Frauen das Leben kostete. Ein Schrei der Verzweiflung und des Schmerzes scheint sich dem Mund des zu ewiger Höllenqual Verdammten zu entringen, den im folgenden Raum Balthasar Permoser in seiner Skulptur „Die Verdammnis“ von 1725 zur Darstellung bringt. Wie man in der Antike litt, zeigt uns ein Abguß der berühmten Laokoon-Gruppe, und auch ein Halseisen aus dem Stadtgeschichtlichen Museum erzählt – neben physiognomischen Studien des Lavater und dem Hinrichtungszettel einer Leipziger Kindsmörderin – von den Möglichkeiten menschlicher Qual.

Und wo die Qual wohnt, ist auch der Sensenmann nicht weit. Das Motto Anatomie und Totentanz nach einer Zeichnung des Andreas Vesalius gibt den Rahmen vor für einen motivgeschichtlichen Abriß des Todes: die Strafe fürs Naschen am Paradiesapfel, die medizinisch untersuchbare Tatsache, das Symbol der Vanitas schlechthin und Eros & Thanatos in leidenschaftlicher Umarmung.

Apropos Leidenschaft: Nun wird es einem endlich wieder warm ums Herz! Zu den Klängen von Bachs Hochzeitskantate „O holder Tag, erwünschte Zeit“ sollten Sie nun im nächsten Raum Bist du bei mir… das „Liebespaar mit Falken“ vom Meister des Hausbuches aus dem Jahre 1480 betrachten. Der gezähmte Falke als minnelyrisches Symbol steht für das treue Herz der Dame oder des Ritters, weshalb man ihn nur ungern in der Freiheit sah. So ziert auch ein flugunfähiger Turmfalke als Präparat aus dem Naturkundemuseum die Wand – ob damit ein Herz gewonnen wurde, bleibt jedoch unklar. Wer erfolgreich die Liebste beminnen will, der sollte lieber zur „Viola d’amore“ greifen, die mit ihren Saiten garantiert die umworbene Seele zum Klingen bringt. Die eher profanen Seiten der Liebe werden dem Betrachter erst wieder einfallen, wenn er auf eine „Non-Ovlon“-Schachtel stößt – das Kontrazeptivum der DDR. Sex & Crime ist dann der Titel des folgenden Komplexes um Lovis Corinths Gemälde „Salomé II“ von 1900. Auch wenn sie nach intensiver Betrachtung der zugeordneten Objekte noch immer nicht verstehen, wieso man einem Menschen aus Liebe den Kopf abschlägt – so wie es seit der ?fin de si?cle? – Interpretation die biblische Salomé mit Johannes dem Täufer tat – haben Sie doch etwas über Corinths Auffassung von Malerei gelernt, der sich im Bild selbst mit Farbe am Pinsel, äh Blut am Schwert darstellt.

Vom Blutrausch hinüber zum alkoholischen Delirium führt der letzte Raum, in dessen Zentrum Nikolaus Knüpfers Federzeichnung von 1650 „Wein ist Venusmilch“ steht. Doch nicht nur die Freuden der Bacchanalien und der gaukelnde Flug eines schönen Schmetterlinges – der Bacchantin – werden in den Ausstellungsobjekten beschworen, auch eine der Zirrhose verfallene Leber und die Lichtbildreihe „Der Alkoholismus“ zur Volksbelehrung aus dem Jahre 1923 werden realistischerweise gezeigt.

Wenn Sie neugierig geworden sind und soviel Wechsel-Spannung aushalten können, dann sei Ihnen zu einem Ausstellungsbesuch nur geraten. Das offene und didaktisch gelungene Konzept der Ausstellung überzeugt, auch ohne Katalog. Also: Lassen Sie sich elektrisieren !

„Bilder im Wechselstrom“

Ausstellung im Museum der bildenden Künste Leipzig, 8. 2. – 6. 4. 2003

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