Religiöse Empfindungen und die Bitte um Frieden im Konzertsaal

Eine großartige Missa solemnis mit dem Gewandhausorchester und dem MDR Rundfunkchor im Großen Saal

Als Beethoven zwischen 1818 und 1823 die Missa Solemnis komponierte, schuf er mit ihr ein Werk, das religiös, sinnlich und großartig ist, zugleich aber auch vielschichtig und mahnend. Er widmete die Messe dem Erzherzog Rudolf von Habsburg zu dessen Inthronisation als Erzbischof von Olmütz.

Wie ein sich öffnendes Tor in ein majestätisches Reich erklingt das Kyrie in satten Dur-Harmonien und schreitendem Rhythmus. Die wohligen Klänge der Pauken und Trompeten erfüllen nicht nur den Saal, sondern sie durchdringen jeden einzelnen Zuhörer. Der Gesang wirkt einnehmend und mächtig. Wenig später folgt dem Kyrie, dynamisch etwas zurückgenommen und in Moll, das Christe eleison. Die Solisten geben hier einen Eindruck ihrer warmen, tragenden Stimmen. Im Großen und Ganzen ist das Kyrie eine majestätische und prächtige Eröffnung, wie sie nur einer Person höchsten Ranges gebühren sollte.

Kaum ist dieses großartige, ja himmlische Gebiet betreten, erweist der Chor dem Einladenden sogleich die Ehre mit wiederholtem Rufen des Gloria in excelsis Deo. Musikalisch ist diese Stelle rasant und mit Fugen durchsetzt. Königliche Posaunenklänge unterstreichen die Bedeutung der Worte „Deus Pater omnipotens“. Schön ist das Zusammenspiel der Solisten beim „Qui tollis“. Die Stimmen lösen sich gegenseitig ab, verschmelzen, wirken ausgewogen und gleichberechtigt. Für kurze Zeit kommt aber doch ein Hauch von Langsamkeit, ja fast Trägheit auf, der jedoch bald vergessen ist. Die mit Pauken eingeleiteten „Quoniam“-Rufe und der abschließende „In gloria Dei patris amen“-Teil steigern sich in einen Presto-Teil hinein. Hier werden die Anfangsworte Gloria in excelsis Deo wieder aufgenommen. Die Musik intensiviert sich sowohl dynamisch als auch melodisch und führt das Gesungene sozusagen gen Himmel. Vom Eindruck her erinnert das Gloria zum Teil an Momente aus Beethovens Neunter Symphonie, welche er etwa zur selben Zeit komponierte.

Wie eine Tatsache komponierte Beethoven das Credo und setzte tonmalerische Elemente ein, die das Glaubensbekenntnis auch ohne Worte verständlich machen. Der Beginn erinnert mit seiner abfallenden Terz an liturgischen Gesang. Die abschließende Kadenz scheint die Festigkeit des Glaubens zu bestätigen. Immer wieder findet man dieses standhafte Thema in Chor und Solisten-Einsätzen wieder. Als wohltuende piano-Stelle vertonte Beethoven die Worte „in spiritu sancto“. Aus der Menschwerdung Gottes machte er einen musikalischen Niedergang. Doch nach der ? im äußersten Adagio – folgenden Kreuzigung scheint der Text gebrochen. So wird das „et“ vor dem „sepultus est“ isoliert. Es steht alleine da, mal von Solisten und mal vom Chor gesungen, fast gesprochen. Ausdruck von Fassungslosigkeit? Es ist aus dem Melodiefluss herausgerissen. Scharfe Dissonanzen folgen dieser schwerfälligen Passage. Eine Moll-Harmonie mit orgelpunktartigem Charakter wird im Orchester bis ins Pianissimo gespielt. Doch dann: In schnellem Tempo malen die Musiker auch hier, zunächst die Männerstimmen, den Aufstieg zum Himmel nach. Zu den Solo-Männerstimmen, die rund und warm klingen, treten die hellen Solo-Frauenstimmen und gestalten mit Chor und Orchester das Kernstück dieses Abends.

Die folgenden Teile Sanctus – Benedicuts komponierte Beethoven in einem Satz. Sie sind lediglich durch ein Präludium voneinander getrennt. Die Solisten präsentieren hier zu Beginn weite Melodien. Langsam und mit wenig Vibrato verströmen ihre Stimmen angenehme Wärme. In diesem gesungenen Gebet gibt es hoch romantische Momente. Vor allem die verminderten Klänge, die sich nicht auflösen, aber das Motiv einfach auf einer anderen Tonstufe weiterführen, deuten dies an. Das Tempo erhöht sich, eine allgemeine Steigerung des Sanctus folgt. In einer fordernden, schnellen Passage scheinen für einen kurzen Moment Orchester und Sänger fast auseinander zu brechen. Im Benedictus überflügelt die Sologeige das Geschehen. Manchmal meint man in den dazu gesungenen Melodien Momente aus gregorianischen Gesängen zu vernehmen. Durch das Spiel der Sologeige erhält diese Passage eine sehr persönliche Note.

Zum Abschluss erklingt die Bitte um Frieden: Agnus Dei. Thomas Quasthoff bringt diese Bitte gleich zu Beginn so innig vor, dass es nicht schwer ist, die Situation eines schuldbewussten Menschen nachzufühlen. Die Bitte um Vergebung zieht sich durch alle Stimmen. Das Flehen entwickelt sich im Zusammenspiel zu einem Rufen. Es steigert sich in Momente hinein, in denen die Verzweiflung Überhand zu nehmen scheint. Merkwürdige Einwürfe von Paukentremoli und Trompetenfanfaren unterbrechen das Flehen und wirken ermahnend, irgendwie unberechenbar. Vielleicht ein Sinnbild dafür, dass der Mensch nur bitten, aber nicht die Erfüllung der Bitte „erwarten“ kann? Dann wurde aus dem „gib uns Frieden“ nur noch „dona pacem“. Wie zeitgemäß.

Es dauert fast eine Minute, bis die Stille im Saal durch tosenden Applaus und Bravo-Rufe unterbrochen wird. Nicht wenige erheben sich spontan zu stehenden Ovationen, sichtlich gerührt. Wenn einem so eine große Musik auf so gelungene Weise dargeboten wird, ist dies verständlich. Ein erinnerungswürdiger Kunstgenuss.

Ludwig van Beethoven: Missa solemnis D-Dur op. 123

Juliane Banse, Sopran
Iris Vermillion, Alt
Christian Elsner, Tenor
Thomas Quasthoff, Bass

MDR Rundfunkchor (Einstudierung: Horst Neumann)
Gewandhausorchester, Dirigent: Herbert Blomstedt

6. März 2003, Gewandhaus, Großer Saal

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